Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)
der Stammtisch in der Kneipe, mit Wimpel, schmiedeeisernem Aschenbecher und Glocke zum Herbeirufen des Kellners heute als Hort der Reaktion. Warum eigentlich? Entgegen der landläufigen Meinung waren es auch in diesem Falle die Fortschrittlichen, welche die Tradition begründeten, allen voran Republikaner und Parlamentarier. Die Fraktionen der Frankfurter Paulskirche benannten sich nach den Wirtshäusern und Cafés, in denen sie sich trafen: Die radikale Linke gab sich den Namen Donnersberg, die demokratische Linke Deutscher Hof; die Fraktionen der Linksliberalen nannten sich Württemberger Hof und Augsburger Hof, die Nationalliberalen Casino; und die Konservativen tauften sich Café Milani und Pariser Hof. Als sich Friedrich Engels Anfang der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts zum Militärdienst in Berlin einfand, traf er sich regelmäßig mit Max Stirner, Bruno Bauer und anderen Junghegelianern zum Stammtisch der «Freien». Er fand ab wechselnd in einem der Weißbierlokale in der Friedrichstadt oder in einer Weinkneipe in der Poststraße statt; man trank, philosophierte, war recht ausgelassen, und manchmal ging dabei auch der ein oder andere Stuhl zu Bruch.
Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei wurde in einer Kneipe gegründet, am 9. August 1869 unter der Wartburg im Eisenacher Wirtshaus «Zum Goldenen Löwen». Und als mit Bismarcks Sozialistengesetz die Sozialdemokratische Partei und deren Vereine verboten wurden, kam man in den Wirtshäusern zusammen. Der spätere erste Reichspräsident der Weimarer Republik, der Sozialdemokrat Friedrich Ebert, führte Ende des 19. Jahrhunderts sechs Jahre lang in Bremen selbst eine Gastwirtschaft, das Wirtshaus «Zur guten Hilfe».
Zahlreiche Stammtische haben es zu nationaler Berühmtheit gebracht: Der «Verbrechertisch» in Leipzig, an dem sich die Veteranen der Revolution von 1848 trafen; «Die ehrlichen Kleiderseller zu Braunschweig», zu denen auch der Schriftsteller Wilhelm Raabe gehörte; aber auch Erich Mühsams Stammtisch «Junges Krokodil» im Münchner Ratskeller, wo über den Köpfen der Gruppe von einer Lampe herab das Präparat eines Alligatorjungen schwebte.
«Diese Bierhäuser sind die eigentlichen Tempel der Kannegießereien. Darüber wird dann die gehörige Masse von politischem Senf gegossen», schrieb Friedrich Rauers in seiner Kulturgeschichte der Gaststätte . «Man schließt Allianzen, lässt Flotten auslaufen, Armeen marschieren, Potentaten sterben. Und je lebhafter die Unterhaltungen gehen, desto besser schmeckt das Bier.» Aber wird heute überhaupt noch politisiert an deutschen Stammtischen? Eine der Regeln für meinen Stammtisch, die der Wiener Schriftsteller Peter Altenberg Anfang des 20. Jahrhunderts aufgestellt hat, lautet: «Politische Gespräche haben über die Phrase: ‹Ich glaube, in Amerika brandelt’s›, nicht hinauszugehen!» Ein kluger Stamm tisch blendet solche Fragen, die zu Zerwürfnissen unter seinen Teilnehmern führen können, aus. Ohne Regeln geht es nicht, das gilt eben auch für einen funktionierenden Stammtisch. Auch die folgende Stammtischregel Altenbergs scheint mir heute noch bedenkenswert: «Das Wort ‹Popo› oder Ähnliches ist tunlichst zu vermeiden. Ist das aber unmöglich, so soll es mehr oder weniger geflüstert vorgebracht werden!»
Den «Honoratiorenstammtisch» von einst, zu dem sich sonntags nach dem Kirchgang Bürgermeister, Pfarrer, Dorfschullehrer, Großbauer, Richter, Arzt und Apotheker trafen, gibt es längst nicht mehr. Aber davon abgesehen ist die Tradition des Stammtisches quicklebendig. Im berühmtesten Wirtshaus Deutschlands, dem Münchner Hofbräuhaus, gibt es heute einhundertzwanzig davon, und laufend kommen neue dazu. Sie heißen «Wolperdinger», «Aloisius» und «Zwoate Hoamat». Der älteste trägt den Namen «Wuide Rund’n». Er trifft sich jede Woche am Freitagnachmittag, Tracht ist gerngesehen; zu seinen Mitgliedern zählen Hausmeister, Eisenbahner, Feuerwehrmänner und Ministeriumsbeamte, Frauen sind zugelassen. Englische Gentlemen werden hier nicht herangebildet, aber das erwartet auch keiner.
Den Stubenhockern, Eigenbrödlern, Elfenbeinturmbewohnern und Wolkenkuckucksheimern sei es ins Stammbuch geschrieben: Der Mensch muss unter die Leute – ob in den Club, in den Salon, den Verein oder zum Stammtisch ins Wirtshaus. Und sei es auch nur, um daran erinnert zu werden, dass er nicht alleine allein ist. Wie beispielsweise Joachim Ringelnatz, der mit folgenden Versen das Genre
Weitere Kostenlose Bücher