Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)
des melancholischen Stammtischgedichts begründet hat:
Wir sitzen gediegen und ausgewählt
Beisammen und spielen gemütlich.
Wenn einer ernst, lustig, vom Norden erzählt,
Lacht jeder etwas. Und denkt südlich.
Zwei Kellner trotteln durch das Wirtshaus.
Zwischen ihnen steht ein Spiegel.
Sie popeln beide auf Teufelkommraus,
Ein – scheinbar zwei – Schweinigel.
Was wissen die von Brücken, die
Sich selbst für Inseln halten?
Und welche Inseln meinen, sie
Könnten sich selbst verwalten?
Wir wandern alle mit der Zeit
Nach dem spitzen Ende der Tüte.
Höflichkeit und Liebenswürdigkeit
Sind noch längst keine Güte.
Gottesfurcht
A nfang der siebziger Jahre, nicht lange nachdem ich nach Deutschland gekommen war, war ich zu einer Beerdigung auf dem Lande ins Niederbayerische geladen. Gestorben war der greise Großvater eines deutschen Freundes, den ich noch aus Äthiopien kannte. Der Großvater führte den Bauernhof der Familie, bis dieser dann auf den Sohn – den Vater meines Bekannten – übergegangen war. Im Alter von vierundachtzig Jahren war der alte Bauer friedlich in seinem Bett entschlafen. Bereits einige Tage vor seinem Tod hatte er die Sterbesakramente erhalten. Wie es der Brauch wollte, war nach dem Feststellen des Todes der Spiegel in der Kammer verhüllt und die Uhr angehalten worden. Die darauffolgenden Tage und Nächte hatte die Witwe des Verstorbenen, auch sie schon über achtzig und von der harten Arbeit auf dem Feld gezeichnet, im stillen Gebet mit dem Rosenkranz in ihren zittrigen Händen die Totenwache gehalten.
Als ich zur Beerdigung eintraf, war der mit Blumen gaben und Heiligenbildern geschmückte Sarg des Verstorbenen im Hof aufgebahrt. Das ganze Dorf war auf den Beinen, die Männer im schwarzen Anzug, die Frauen in Tracht und Trauermantel. Der Priester sprach den Segen, dann formierte sich der Trauerzug. Der Geistliche führte den Zug an, hinter ihm die Sargträger und die Familienangehörigen, und am Ende die Trauergemeinde. Der Bauer selbst, zwei seiner Brüder und sein ältester Sohn trugen den Sarg. An der Dorfkirche machte der Zug halt, vor dem Altar wurde der Sarg ein zweites Mal aufgebahrt. Die Glocken läuteten, und die Totenmesse begann. Danach ging es im Kondukt zur Beisetzung auf dem Friedhof gleich nebenan. Der Sarg wurde ins Grab gesenkt. Ein letztes Mal nahmen die Trauernden Abschied mit dem dreifachen Erdwurf, begleitet von der Formel «Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub». Der Beerdigung schloss sich ein Leichenschmaus im Dorfgasthof an. Wohl an die hundert Trauernde hatten sich um die Tische versammelt. Die Stimmung war gelöst, Erzählungen und heitere Anekdoten über den alten Bauern machten die Runde, und hie und da war Lachen zu vernehmen. Das tat der Würde dieses Tages keinen Abbruch, im Gegenteil: Es war eine der feierlichsten Beerdigungen, die ich je erlebt habe. Der Abschied verlief nicht ohne Schmerz, aber der Tod und das Leid waren aufgehoben in einem großen Zeremoniell, das ganze Dorf einbezogen. Gemeinsam hatte man den frommen Großvater in die Hände Gottes gegeben.
Die Sterbesakramente, das Verhängen der Spiegel, das Auf bahren, das Anlegen der Trauerkleidung, der Kondukt, Messe, Grablegung und Leichenschmaus – die Kette der rituellen Handlungen half dabei, Abschied zu nehmen, und stiftete Trost. Auf die Angehörigen warteten noch weitere Rituale der Trauer: Das Sechswochenamt schloss sich an und das Trauerjahr, und es bestand gar kein Zweifel daran, dass die Witwe des Verstorbenen es einhalten, und, wie es ihr aufgegeben war, so lange Trauerkleidung tragen würde.
Die Trauerzeit und anderes waren mir aus meiner, der äthiopisch-orthodoxen Kirche bekannt, manches aber war neu für mich. So erzählte mir der Bauer beim Leichenschmaus, dass er selbst noch als Kind beim Tod seines Großvaters das Todansagen erlebt habe. Dazu wurden die Gegenstände in Haus und Scheune umgeräumt und die Tiere im Stall aufgescheucht: Menschen, Tieren und Dingen – allen und allem wurde der Tod angesagt. Und er erzählte mir, dass es in einem Dorf nebenan bis heute noch Häuser mit einem «Seelenloch» gebe – winzigen Fenstern, die beim Eintritt eines Todesfalles geöffnet wurden, damit die Seele des Verstorbenen mühelos entweichen könne. Ebendies sollten ja auch die Bräuche des Fensteröffnens und Spiegelverhängens bezwecken.
Die Beerdigung ist nun über vierzig Jahre her. Gibt es solche innigen Beispiele ländlicher Gottesfurcht heute noch in
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