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Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)

Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)

Titel: Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Asfa-Wossen Asserate
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stammen: Gryphius, Lessing, Lichtenberg und Wieland; die Brüder Schlegel, Schleiermacher und Schelling; Dilthey, Droysen und Mommsen; Burckhardt, Schliemann und Schinkel; Jean Paul, Gottfried Benn und Hermann Hesse; Friedrich Nietzsche und Angela Merkel. Über Jahrhunderte hinweg galt das Pfarrhaus als die Keimzelle der höheren Bildung in Deutschland, zumal auf dem Lande. Wie viele haben nicht ein Loblied darauf gesungen, sogar Goethe: «Ein protestantischer Landgeistlicher ist vielleicht der schönste Gegenstand einer modernen Idylle; er er scheint, wie Melchisedek, als Priester und als König in einer Person. An den unschuldigsten Zustand, der sich auf Erden denken lässt, an den des Ackermanns, ist er meistens durch gleiche Beschäftigung, sowie durch gleiche Familienverhältnisse geknüpft; er ist Vater, Hausherr, Landmann und so vollkommen ein Glied der Gemeinde. Auf diesem reinen, schönen, irdischen Grunde ruht sein höherer Beruf; ihm ist übergeben, die Menschen ins Leben zu führen, für ihre geistige Erziehung zu sorgen, sie bei allen Hauptepochen ihres Daseins zu segnen, sie zu belehren, zu kräftigen, zu trösten, und, wenn der Trost für die Gegenwart nicht ausreicht, die Hoffnung einer glücklicheren Zukunft heranzurufen und zu verbürgen.»
    Verstandes- und Herzensbildung – im evangelischen Pfarrhaus schien sie vereint. Auch Heine pries es in höchsten Tönen: «Man muss zu Fuß, als armer Student, durch Norddeutschland wandern, um zu erfahren, wie viel Tugend, und damit ich der Tugend ein schönes Beiwort gebe, wie viel evangelische Tugend, manchmal in so einer scheinlosen Pfarrerwohnung zu finden ist. Wie oft des Winterabends fand ich da eine gastfreie Aufnahme, ich ein Fremder, der keine andere Empfehlung mitbrachte, außer dass ich Hunger hatte und müde war. Wenn ich dann gut gegessen und gut geschlafen hatte, und des Morgens weiterziehen wollte, kam der alte Pastor im Schlafrock und gab mir noch den Segen auf den Weg, welches mir nie Unglück gebracht hat; und die gutmütig geschwätzige Frau Pastorin steckte mir einige Butterbröte in die Tasche, welche mich nicht minder erquickten; und in schweigender Ferne standen die schönen Predigertöchter mit ihren errötenden Wangen und Veilchenaugen, deren schüchternes Feuer, noch in der Erinnerung, für den ganzen Wintertag mein Herz erwärmte.» Das schien Heine eine würdige Entschädigung für die Mirakel und die Poesie, die der Protestantismus beiseitegewischt hatte.
    «Ohne Pfarrhaus», schrieb einst Robert Minder, «oder zumindest ohne lutherischen Hintergrund, sind auch die Größten: ein Leibniz, ein Bach, ein Goethe, nicht zu verstehen.» Der Schriftsteller Richard Wagner ging bei seinen Erkundungen der deutschen Seele noch einen Schritt weiter: «Was dem Franzosen die Enzyklopädie ist, sollte für den Deutschen das evangelische Pfarrhaus sein.» Man wird dem, wenn man sich die stolze Liste der Pfarrersöhne und -töchter betrachtet, insofern zustimmen müssen, als hier wie dort ganz ähnliche Fliehkräfte am Werke waren: Wie die Köpfe der französischen Encyclopédie – Diderot, d’Alembert, Voltaire und all die anderen – wollten auch viele der im evangelischen Pfarrhaus Großgewordenen von Gott bald gar nichts mehr wissen. Und Heine, der Gastfreundschaft, «errötende Wangen und Veilchenaugen» als protestantische Tugenden preist, ging es da nicht anders. Stück für Stück wurde die Religion durch die Aufklärung entkernt, nicht nur in Deutschland, sondern im ganzen westlichen Europa.
    Die ersten Befunde wurden schon früh gestellt. Im Jahr 1791, zu Zeiten der Französischen Revolution, lässt der Freiherr Knigge seinen Romanhelden Benjamin Noldmann, übrigens im Gefolge eines äthiopischen Prinzen, einem denkwürdigen Gottesdienst beiwohnen: «In dem geschmacklosesten, feuchtesten, kältesten und schmutzigsten Gebäude des ganzen Städtchens oder Dorfs versammelt sich das Volk beiderlei Geschlechts und setzt sich, teils wie in den Schulen auf Bänken, teils in kleinen hölzernen Kasten, den Tollhaus-Kojen gleich, teils auf andern erkauften oder nicht erkauften Plätzen, in groteskem Anputze hin. Dann beginnt ein Gesang, dessen Poesie oft platt und komisch, die Musik abscheulich und die Begleitung einer verstimmten Orgel unerträglich ist. Ein Schulmeister gibt mit grässlich verzerrtem Gesichte die Melodie an und wiederholt durch die Nase die letzten Worte jedes Verses. Einige hundert unmusikalische Menschen brüllen aus

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