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Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)

Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)

Titel: Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Asfa-Wossen Asserate
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Deutschland?, frage ich mich, wenn ich daran zurückdenke. Vielleicht dort, wo es noch funktionierende katholische Dorfgemeinschaften gibt. Aber das allgemeine Verständnis für religiöse Rituale und ihren Sinn ist in stetem Schwinden begriffen, und dies keineswegs nur in den Großstädten. Im öffentlichen Raum der Gesellschaft ist die Religion heute nur noch geduldet, und das heißt auch: Das Gemeinschaftsstiftende droht verloren zu gehen. Manche der alten Rituale hat ja bereits die evangelische Kirche für obsolet erklärt, zusammen mit einigen kirchlichen Sakramenten. Niemand wird es bestreiten: Die Kirchenspaltung, Reformation, Gegenreformation und der darauffolgende Dreißigjährige Krieg haben Wunden geschlagen – nicht nur in Deutschland, aber hier am tiefsten. Die meisten von ihnen mögen inzwischen vernarbt sein. Die Zeiten der Feindseligkeiten zwischen den Konfessionen, der Frontstellung und des Kulturkampfes sind vorbei. Nur noch selten ist es ein Thema, wenn der Sohn oder die Tochter in eine Familie außerhalb der eigenen Konfession einheiratet. Sogar die führende konservative, traditionell katholisch geprägte Partei, die in der Nachfolge der konfessionellen Zentrumspartei steht, kann heute von einer Protestantin geführt werden. Und doch haben sich durch die konfessionelle Spaltung im Laufe der Zeit verschiedene Mentalitäten herausgebildet, die immer noch wirksam sind. Meist spürt man sofort, ob man sich in einer katholisch oder in einer protestantisch geprägten Region befindet – man muss dazu keine Kirche betreten.
    Von Heine stammt das berühmte Wort, dass Luther «nicht bloß der größte, sondern auch der deutscheste Mann unserer Geschichte ist; dass in seinem Charakter alle Tugenden und Fehler der Deutschen aufs Großartigste vereinigt sind». Es findet sich in seiner Geschichte der Religion und der Philosophie in Deutschland , die er im Pariser Exil verfasste. Und dort heißt es weiter: «Er (Luther) war zugleich ein träumerischer Mystiker und ein praktischer Mann der Tat. Seine Gedanken hatten nicht bloß Flügel, sondern auch Hände; er sprach und handelte. Er war nicht bloß die Zunge, sondern auch das Schwert seiner Zeit. Auch war er zugleich ein kalter scholastischer Wortklauber und ein begeisterter, gottberauschter Prophet. Wenn er des Tags über mit seinen dogmatischen Distinktionen sich mühsam abgearbeitet, dann griff er des Abends zu seiner Flöte und betrachtete die Sterne und zerfloss in Melodie und Andacht. Derselbe Mann, der wie ein Fischweib schimpfen konnte, er konnte auch weich sein, wie eine zarte Jungfrau. Er war manchmal wild wie der Sturm, der die Eiche entwurzelt, und dann war er wieder sanft wie der Zephyr, der mit Veilchen kost.»
    Wie kaum ein zweites Individuum der Geschichte hat Luther die Geschicke seines Landes geprägt und damit diejenigen Europas. Nicht nur durch seinen Kampf gegen Rom und das Papsttum, sondern auch mit seiner Übersetzung der Bibel, die aus dem Buch Gottes ein Buch für das Volk machte. Manches hat man ihm vorgeworfen: seinen Grobianismus und seine Judenfeindschaft; seinen Hang zur Bilderstürmerei und seinen Schulterschluss mit der weltlichen Macht zur Durchsetzung seiner Ziele; seine Humanismus- und Luxuskritik und seinen Hang zu Verboten, die einen Prozess in Gang setzten, an dessen Ende dann die von manchen beklagte protestantische Genussfeindlichkeit stand. Aber richtig ist eben auch, was Egon Friedell sagte: «Um etwas mit der tiefsten Leidenschaft bekriegen zu können, muss man aufs Tiefste daran leiden können, und um daran wirklich leiden zu können, muss man es sein . Nur der Manichäer Augustinus konnte zum Kirchenvater werden; nur der Altaristokrat Graf Mirabeau konnte die Französische Revolution ins Rollen bringen; nur der Pastorssohn Friedrich Nietzsche konnte Antichrist und Immoralist werden; nur Männer von so durchaus bürgerlicher Abstammung und Erziehung wie Marx und Lassalle konnten den Sozialismus begründen; und nur ein katholischer Priester konnte den Katholizismus in seinem innersten Kern auflösen. Wer Paulus werden will, muss vorher Saulus gewesen sein, ja im Grunde sein ganzes Leben lang ein Stück Saulus bleiben.» Und a n Gottesfurcht hat es Luther gewiss nicht gefehlt – sein Leben lang.
    Stilbildend wurde seine Ehegemeinschaft mit Katharina von Bora im Pfarrhaus zu Wittenberg. Überall in Deutschland machte das Vorbild Schule. Lang ist die Liste der be rühmten Deutschen, die aus dem evangelischen Pfarrhaus

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