Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)
Leibeskräften mit. Und solcher Gesänge muss man vielleicht sechs in einer Sitzung hören. Wollt Ihr durchaus Musik geben, so gebet gute Musik! Soll gesungen werden, so lasset doch Menschen singen, die singen können! Zwischendurch werden von einem Manne in einer großen Perücke, in heulendem Tone, Stellen aus der Bibel verlesen; es werden Gebete gesprochen, die jedermann auswendig weiß. Dann tritt der Geistliche in einen kleinen, erhaben gestellten Kasten und hält eine Rede, die nur auf den Gemütszustand weniger Zuhörer passt. Hierauf geht das Gebrülle noch einmal an, und am Ende spielt der Organist ein lustiges Stückchen, worauf die Versammlung, wovon die Hälfte geschlafen hat, im Winter durch und durch gefroren, im Sommer von den Dünsten fast erstickt ist, auseinandergeht.»
Welcher gottesfürchtige Kirchgänger des beginnenden einundzwanzigsten Jahrhunderts könnte nicht ein ähnliches Lied davon singen? Und doch hat es über die Zeiten hinweg nicht an wahrhaft Gottesfürchtigen gefehlt. Ich darf hier an einige derer erinnern, die sich in dunklen Zeiten der Barbarei entgegenstemmten und dafür mit langen Haftstrafen oder gar mit dem Tode büßten: Paul Schneider, der «Prediger von Buchenwald», der im dortigen Konzentrationslager ermordet wurde; Martin Niemöller, der acht Jahre Gefangenschaft in den nationalsozialistischen Lagern überlebte; Graf von Galen, Bischof von Münster, der mutig gegen die Ermordung Behinderter eintrat; Bernhard Lichtenberg, Domprobst der Berliner St. Hedwigs-Kathedrale, der öffentlich gegen die Verfolgung der Juden predigte und nach mehreren Jahren Haft den Transport nach Dachau nicht überlebte; Maximilian Kolbe, Sohn eines deutschstämmigen Webers, der als Minoritenmönch Tausenden Juden und Flüchtlingen Zuflucht gewährte und in Auschwitz ermordet wurde (er wird heute als Heiliger verehrt); Dietrich Bonhoeffer, der die Verschwörer des 20. Juli unterstützte und in Flossenbürg hingerichtet wurde; Sophie und Hans Scholl und die Gruppe der Weißen Rose, die durch ihren Glauben zum Widerstand gegen Hitler fanden. Sie alle wussten: Es gibt eine Instanz jenseits des Staates, vor der der Mensch sich und sein Tun zu verantworten hat. Und das half ihnen dabei, das Richtige zu tun.
Auch während der Diktatur der DDR hat es an mutigen Gottesfürchtigen nicht gefehlt, die den strammen atheistischen Parolen nicht folgen wollten. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an den streitbaren Pfarrer von Rippicha im Landkreis Zeitz, Oskar Brüsewitz. Seine Predigten lockten die Menschen von überall her in die Kirche. Auf dem Kirchturm von Zeitz ließ er ein drei Meter hohes Neonkreuz anbringen, ein weithin sichtbares Zeichen. Keine noch so scharfe Drohung konnte ihn dazu bringen, es wieder abzunehmen. Gegen das SED-Plakat «25 Jahre DDR» setzte er die Losung «2000 Jahre Kirche Jesu Christi». Als die SED die Parole ausgab: «Ohne Gott und Sonnenschein bringen wir die Ernte ein», protestierte er mit einer Fahrt auf dem Pferdefuhrwerk von Rippicha nach Zeitz. Auf dem Wagen prangte ein Transparent mit den Worten: «Ohne Regen, ohne Gott, geht die ganze Welt bankrott.» Erst als er in Zeitz angekommen war, gelang es der Volkspolizei, ihn zu stoppen. Die Staatsmacht drohte ihm mit Verfahren wegen Staatzersetzung und Hausfriedensbruch und mit der Einweisung in eine Nervenklinik; die Kirchenleitung wiederum, der der widerständige Seelsorger lästig war, drohte mit Versetzung. Dem kam der tapfere Oskar Brüsewitz zuvor, indem er sich am 18. August 1976 vor die Michaeliskirche in Zeitz stellte, sich aus einer Milchkanne mit Benzin übergoss und sich selbst anzündete. Seine «Republikflucht in den Tod» bewirkte, dass der kirchliche und der politische Widerstand gegen das DDR-Regime zusammenfanden. «Wer da bedrängt ist, findet/Mauern, ein Dach und/muss nicht be ten», dichtete Reiner Kunze. In den evangelischen Pfarrhäusern fanden die Oppositionellen Schutz, und dreizehn Jahre später brachten sie vereint das System zum Einsturz.
Heute, wo mit Joachim Gauck ein einstmaliger Pastor aus Rostock an der Spitze Deutschlands steht, glauben in Ostdeutschland weniger Menschen an Gott als irgendwo sonst auf der Welt. Und nichts deutet darauf hin, dass der anhaltende Schwächeanfall des Christentums im westlichen Europa bald vorbei sein könnte. Bunte Kirchentage und noch so gutgemeinte Happenings und Events werden die anhaltende Säkularisierung nicht stoppen können. Doch während das
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