Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)
Christentum aus dem öffentlichen Raum immer mehr verschwindet, ist in den letzten Jahrzehnten in Deutschland eine andere Religion zunehmend sichtbar geworden: die des Islam. Fast zwei Millionen Menschen bekennen sich heute in Deutschland zum mohammedanischen Glauben. Und mit den Moscheen kamen die Warner und Mahner – ehrlich Besorgte, aber auch verantwortungslose Scharfmacher. Mir scheint jedoch, dass die wirklichen Frontlinien heute gar nicht zwischen den Religionen – zwischen Christen und Muslimen und Juden – verlaufen, sondern zwischen Religiösen und Nichtreligiösen. Als sich Muslime und Christen im Mittelalter in den Kreuzzügen gegenüberstanden und die einen riefen: «Allahu Akbar», «Allah ist groß», und die anderen «Deus vult», «Gott will es», waren sie sich doch beide in einem Punkt nahe: ein gottloser Raum war für sie gänzlich unvorstellbar. Heute stehen sich die säkularisierte Gesellschaft auf der einen und die Religionen mit ihren Speisegesetzen, Fastenzeiten, Gottesdiensten, Gewohnheiten und Riten auf der anderen Seite zunehmend verständnislos gegenüber. Es wäre schon viel gewonnen, wenn man sich auf den Grundsatz besänne: Es gibt kein Recht darauf, die Gebräuche und Moralvorstellungen einer Religion zu kritisieren, der man selbst weder angehört noch anzugehören wünscht, mögen sie einem noch so unverständlich, hinterwäldlerisch und barbarisch erscheinen – solange sie nicht die Menschenwürde verletzen. So viel Respekt gegenüber der Sphäre des Religiösen sollte schon sein.
Mancher mag sich die Frage stellen: Muss man, um ein tugendhaftes Leben führen zu können, religiös sein? Nicht unbedingt. Aber ich kann mir keinen besseren Leitfaden denken dafür als die biblischen Zehn Gebote.
Humor
I m Januar 1913 schreibt Franz Kafka, angesprochen auf seinen Humor, in einem Brief an Felice Bauer: «Ich kann auch lachen, Felice, zweifle nicht daran, ich bin sogar als großer Lacher bekannt.» Und dann schildert er seiner zukünftigen Verlobten eine denkwürdige Szene, die sich einige Zeit zuvor in den Räumen der Prager Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt zutrug, wo Kafka arbeitete. An jenem Tag erhielt Kafka zusammen mit zwei seiner Kollegen die feierliche Ernennung zum «Konzipisten». Aus diesem Anlass ist eigens der Präsident der Anstalt, Hofrat Prof. Dr. Otto Přibram, Träger des Leopold-Ordens, gekommen. Das beeindruckt den Büroangestellten Franz Kafka wenig, gleichgültig lässt er die Beförderung über sich ergehen. Denn seine wahre Berufung ist nicht das «Bureau», sondern das Schreiben, dem er vorzugsweise nachts nachgeht. Und wie der Präsident, eine würdige Erscheinung mit weißem Vollbart und hervortretendem Bauch, zu seiner feierlichen Rede ansetzt – «wieder diese übliche, längst vorher bekannte, kaiserlich schematische, von schweren Brusttönen begleitete, ganz und gar sinnlose und unbegründete Rede» –, überkommt Kafka plötzlich das Lachen. Zuerst sind es «kleine Lachanfälle», dann «ein Lachen aus vollem Halse», aus dem ein «so lautes, rücksichtsloses Lachen» wird, «wie es vielleicht in dieser Herzlichkeit nur Volksschülern in Schulbänken gegeben ist». Der Präsident und die Vorgesetzten blicken irritiert, und Kafka versucht sich zu entschuldigen. Doch schon bricht es wieder aus ihm hervor. «Natürlich lachte ich dann, da ich nun schon einmal im Gange war, nicht mehr bloß über die gegenwärtigen Späßchen, sondern auch über die vergangenen und die zukünftigen und über alle zusammen, und kein Mensch wusste mehr, worüber ich eigentlich lachte.» Schließlich entlässt ihn der konsternierte Präsident. «Unbesiegt, mit großem Lachen, aber todunglücklich stolperte ich aus dem Saal.» Noch am selben Abend verfasst Kafka zusammen mit seinem Freund Max Brod einen «Entschuldigungsbrief» an den Präsidenten, der bedauerlicherweise nicht erhalten geblieben ist.
Beim Lesen von Kafkas Erzählungen, in der Verwandlung und im Hungerkünstler, und vor allem in seinen Tagebüchern fand ich dieses respektlose Lachen, diese existentielle Komik wieder – die so gar nicht dem Bild der Düsterkeit und Hoffnungslosigkeit entspricht, das mir meine Deutschlehrer einst von Kafka zeichneten. Mittlerweile ist diese offizielle Sicht ein wenig korrigiert worden, und es gibt neuerdings auch Bücher mit Titeln wie Kafkas komische Seiten – aber dass der deutsche Dichter aus Prag ein höchst humorvoller Mensch und ein großer Humorist war, das
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