Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)
Möglichkeiten zum Missverstehen dem Witz Tür und Tor. Ich weiß nicht, ob es einem wirklich in einem Leipziger Lokal passieren kann, «Gurkensalat» serviert zu bekommen, wenn man «Gorgonzola» bestellt – aber komisch ist die Vorstellung auf jeden Fall. Vor kurzem machte die Nachricht die Runde, dass die offensichtlich aus Sachsen stammende Kundin eines Reisebüros einen Prozess verlor, in dem es um die Kosten für eine zweifelhafte Buchung ging. Sie wollte eigentlich nach Porto, das Reisebüro hatte ihr aber einen Flug nach Bordeaux gebucht. Die Mitarbeiterin hatte dem Gericht glaubhaft versichert, sie habe vor der verbindlichen Buchung die Flugroute zweimal in korrekter hochdeutscher Sprache genannt … Zu Zeiten der DDR machte man sich, wenn man einen Sachsenwitz erzählte, über den Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht und die Nomenklatura lustig, aber Sachsenwitze waren auch vorher schon recht beliebt. Vielleicht weil die Sachsen ähnlich wie die Schwaben seit je als besonders beflissen gelten? Gleichwohl: «Es sollte jedem verboten werden, Sachsenwitze zu erzählen, der sie nicht richtig erzählen kann.» Diesem Diktum Herbert Schöfflers kann ich mich nur vorbehaltlos anschließen.
Relativ jung sind dagegen die Ostfriesenwitze, deren Entstehung recht genau dokumentiert ist. Sie kamen Ende der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts auf, als eine Oldenburger Schülerzeitung die Rivalität zwischen Oldenburger und Ostfriesen aufgriff und in einer Rubrik «Aus Forschung und Lehre» den «Homo ostfrisiensis» vorstellte. Allerdings sind die Ostfriesenwitze in der Mehrzahl kaum originell, handelt es sich doch meist um die Übernahme sogenannter Volksgruppenwitze, die anderswoher kommen – etwa aus der Schweiz, wo man sich in den benachbarten Kantonen Witze übereinander erzählt. Daran sieht man, dass der «Stammesspott» keineswegs «typisch deutsch» ist; wohl aber, wie er in den verschiedenen Dialekten seinen spezifischen Niederschlag findet. Und seine Popularität scheint bis heute ungebrochen.
Der Litanei über die deutsche Humorlosigkeit haben sich gelegentlich auch deutsche Dichter und Denker angeschlossen, sogar solche, die mit dem rheinischen Karneval groß geworden sind. «Ich entdecke die deutsche Humorlosigkeit in fast allem, was bei uns öffentlich passiert», erklärte Heinrich Böll, «manchmal sogar bei mir selbst.» Die deutsche Literatur habe keine Komödiendichter hervor gebracht, weil sie das Theater stets bloß als moralische Anstalt verstand, lautet ein oft gehörter Vorwurf. Aber kann man sich eine vollkommenere Komödie vorstellen als Kleists Zerbrochnen Krug , in der mit Leichtigkeit und wie nebenbei auch noch die höchst ernste Frage des Sündenfalls abgehandelt wird? Es spricht nicht für den Dichterfürsten in Weimar, dass ihm, als er das Stück auf die Bühne brachte, für diese große Komik das rechte Gespür fehlte.
Genauer besehen ist die deutsche Literaturgeschichte reich an Humoristen von Rang. Man denke nur an Lichtenberg und seine Aphorismen, an Heinrich Heine, Christian Morgenstern, Joachim Ringelnatz und Erich Kästner. Von der Komik Kafkas war eingangs schon die Rede. Ich möchte hier vor allem auf drei deutsche Künstler hinweisen, die den Humor in Deutschland in den Olymp gehoben haben: Wilhelm Busch, Vicco von Bülow alias Loriot und Karl Valentin. Für alle drei gilt die kluge Beobachtung Egon Friedells, dass der wahre Humorist niemals selbst etwas macht, sondern das Leben machen lässt: «Wirklichen Humor hat nämlich nur das Leben, und das einzige, was die Humoristen tun können, besteht darin, dass sie diesen Humor abschreiben.» Dazu gehören eine gute Beobachtungsgabe und die Liebe zu Genauigkeit und Perfektion. Um die erhabenste Liebeserklärung ins Komische zu wenden, reicht eine kleine Nudel, die vom Suppenlöffel über die Nase auf den Zeigefinger des Werbenden wandert. «Hildegard, bitte sagen Sie jetzt nichts!» – «Sie machen mich ganz verrückt, Herr Meltzer!» – «Berta, das Ei ist hart!» – «Die Ente bleibt draußen!» Wohl jeder Deutsche kennt die Sätze und Szenen, und wie oft ertappt man sich im Restaurant, im Kaufhaus und anderswo bei dem Gedanken: «Das ist ja wie bei Loriot!» Die Komik liegt auf der Straße, dafür hat Loriot uns wie kein Zweiter die Sinne geschärft.
Auch Karl Valentins Komik lebt von der Beobachtungsgabe und den kleinen Unstimmigkeiten, aus denen sich die großen Katastrophen entwickeln. Man denke nur an die
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