Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)
drei großen Religionen Judentum, Christentum und Islam und deren wechselseitiger Toleranz als höchst provokativ. Heute dagegen ist die Idee der Toleranz zum Allgemeingut geworden. Vor langem schon hat sie ihren ursprünglichen Geltungsbereich innerhalb der Sphäre des Religiösen verlassen: Nicht nur Andersgläubige, auch Andersfarbige und Andersdenkende dürfen im aufgeklärten Rechtsstaat erwarten, dass man ihnen mit Toleranz begegnet. «Lass doch einen jeden auf seinem Steckenpferde die Straßen der Stadt auf und nieder reiten», meinte schon Immanuel Kant, «wenn er dich nur nicht nötigt, hinten aufzusetzen». Und so gibt es kaum einen Menschen weit und breit, der nicht von sich behaupten würde, ein toleranter Mensch zu sein. Unternehmen haben die Toleranz als Vehikel entdeckt, mit denen sich das Geschäft ankurbeln lässt; von Vortragsrednern und Politikern wird sie in Sonntagsreden beschworen, und gerne führt man dabei auch Lessings Ringparabel im Munde.
Anything goes! Für viele ist Toleranz heutzutage nur mehr ein anderes Wort für Gleichgültigkeit. Dabei lassen sie eins außer Acht: Man muss selbst schon eine Meinung haben, um eine andere tolerieren zu können. Wenn man sich die Bedeutung des Wortes ansieht, wird rasch deutlich, was es einmal meinte. Es leitet sich nämlich vom lateinischen tolerare , «erdulden», ab; und bevor das Fremdwort «Toleranz» in Mode kam, sprach man allgemein von «Duldung» oder «Duldsamkeit». Es ist mit der Toleranz also stets auch ein «Leid» verbunden, wie Ignatz Bubis bemerkte, und dies im doppelten Sinne: «Der eine leidet darunter, dass man ihn (nur) dulden will, der andere, dass er eine Sache – oder eine andere Person – erdulden, ertragen muss.» Eine Zumutung mithin für beide Seiten, den Tolerierten und den Tolerierenden. Dies war auch Goethe bewusst: «Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein», heißt es in seinen Maximen und Reflexionen , «sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.» Wenn man über dieses labile Stadium der Toleranz hinauskommen will, bedarf es des guten Willens, der Offenheit und der Neugier. Nur was man kennt, kann man auch anerkennen. Im Hinblick auf die drei monotheistischen Weltreligionen sollte diese wechselseitige Anerkennung gar nicht so schwerfallen, schließlich sind Judentum, Christentum und Islam allesamt «Kinder Abrahams». Es ist ein und derselbe Gott, den sie verehren.
Und wie sieht es mit der Toleranz gegenüber denjenigen aus, die aus anderen Ländern und Kulturen zugewandert sind; deren Abstammung, Hautfarbe und Geschichte eine andere ist als die der Mehrheitsgesellschaft? Ihr Recht auf Gleichberechtigung lässt sich bereits aus dem Prinzip der Menschenrechte ableiten. Die Würde des Menschen ist unteilbar, unabhängig davon, ob er Mann oder Frau, jung oder alt, krank oder gesund, aber auch unabhängig davon, ob er Deutscher oder Ausländer, Christ oder Moslem ist und ob er helle oder dunkle Haut hat. Auch im Umgang mit fremden Kulturen und Ethnien bedarf es wechselseitiger Offenheit und guten Willens, um über den Zustand der Duldung hinwegzukommen. Hier sollte die Integration das Ziel der Bemühungen sein. «Fremd ist der Fremde nur in der Fremde», um es mit Karl Valentin zu sagen. Wird das Fremde zugelassen und als Bereicherung empfunden, kann es in einer neuen Gemeinschaft aufgehen. Dahin zu gelangen ist ein mühsamer, langdauernder Prozess. Er mutet sowohl den Zuwanderern als auch der einheimischen Bevölkerung etwas zu. Von den Zuwanderern darf die ernsthafte Bereitschaft erwartet werden, sich zu integrieren, und damit verbunden das Erlernen der Sprache der neuen Umgebung und die Kenntnis der grundlegenden Regeln des Aufnahmelandes. Von der Mehrheitsgesellschaft wiederum darf die Bereitschaft erwartet werden, den Einwanderern Zugang zu den gemeinschaftlichen Gütern zu gewähren, nicht zuletzt zum Wohnungs- und Arbeitsmarkt, und der gute Wille, vorhandene Vorurteile zu überwinden und den Fremden den Weg in die Mitte der Gesellschaft zu ebnen. Doch die Mühen und Anstrengungen lohnen sich: Die multikulturelle Gesellschaft, die in Deutschland ja längst Wirklichkeit ist, ist keine Bedrohung, sondern eine Bereicherung für alle, die an ihr teilhaben.
«Die Toleranz», heißt es in Diderots Encyclopédie , «ist die Tugend jenes schwachen Wesens, das dazu bestimmt ist, mit Wesen zusammenzuleben, die ihm gleichen.» Niemand kann für sich beanspruchen, die Weisheit
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