Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)
Künstlertum beschrieb als eine «Wiederverwirklichung einer ererbten und blutsüberlieferten Existenzform auf einer anderen Ebene». Mit Treu und Redlichkeit wollte Thomas Mann Schriftsteller sein, und zeit seines Lebens hat er danach gehandelt.
Für Geschäfte, die nach dem Grundsatz der bona fides getätigt werden, für Geschäfte nach Treu und Glauben, bedurfte es keines Vertrages – ein Handschlag genügte. Sogar einen Pakt mit dem Leibhaftigen konnte man per Handschlag abschließen, wie es einst Goethes Faust tat: «Die Wette biet ich!», ruft er, und Mephisto entgegnet: «Topp!» – «Und Schlag auf Schlag!», ruft Faust, und schon hat er seine Seele verkauft.
Von jeher ist der Handschlag das «Zeichen des abgelegten Misstrauens», das Symbol für Treu und Redlichkeit. Wer dem anderen die ausgestreckte Hand reicht, der zeigt ihm, dass er sich ohne böse Absichten und ohne Waffe nähert. Der «Handtreu» als Fingerring stand in der römischen Antike als Zeichen der Eintracht unter Eheleuten, von ihm leitet sich der Ehering ab, wie wir ihn heute kennen. Im 19. Jahrhundert war der «Handtreu» aber auch als Zeichen der Freundschaft beliebt. Bevor im Lehnswesen der förmliche Treueid üblich wurde, stiftete der sogenannte Handgang den Treuebund. Dazu legte der Vasall seine gefalteten Hände in die seines Lehnsherren, die dieser dann umschloss. Damit war ein unverbrüchliches Lehnsverhältnis begründet.
Ist uns diese tiefe Symbolik heute noch bewusst, wenn wir uns die Hände zum Gruß reichen? Lange Zeit schien es so, als ob die Begrüßung per Handschlag in Deutschland auf dem Rückzug sei, zumindest in Westdeutschland und unter jüngeren Menschen. Im Jahre 1967, als mit der Studentenbewegung auch die althergebrachten Umgangsformen in Frage gestellt wurden, wartete die Frankfurter Neue Presse mit einer Umfrage auf: «Händedruck – Symbol des guten Willens. Soll man oder soll man nicht?» Es antwortete auch der Philosoph Theodor W. Adorno: «Ich habe es in angelsächsischen Ländern oft genug erlebt, dass uns Deutschen der Händedruck verübelt wurde. Es liegt wohl etwas Archaisches darin, was sich mit der rationalen westlichen Zivilisation nicht vereinbaren lässt. Andererseits sind mir aber Menschen, die mir die Hand nicht oder nur den kleinen Finger entgegenstrecken, unsympathisch.» Adornos Einrede blieb ungehört. Der Händedruck geriet in den Ruch des Vermufften, und im Zuge des gestiegenen Gesundheitsbewusstseins galt er plötzlich auch noch als unhygienisch – wer weiß schon, welche Bakterien man sich beim Händeschütteln einfangen kann. Was aber waren die Alternativen? Um, wie man es noch vor hundert Jahren tat, zur Begrüßung den Hut zu lüften, fehlte zumeist ein solcher. Unter Freunden bürgerte sich die aus dem Mittelmeerraum übernommene Umarmung, die «Akkolade» ein, bisweilen mit Küsschen auf die Wange. Oder man beließ es einfach bei einem unverbindlichen «Hallo» oder «Hi», vielleicht noch begleitet von kurzem Nicken oder linkischem Winken.
Anders in Ostdeutschland. Dort trug Ulbrichts Sozialistische Einheitspartei Deutschlands den Handschlag im Wappen. Das kommunistische Protokoll sah neben der Umarmung sogar Küsse auf den Mund vor. Obwohl oder gerade weil man dieser zumeist hohlen offiziellen Staatsgesten müde war, ist das Händeschütteln in Ostdeutschland nie aus der Mode gekommen. Egal wie klein oder groß die Runde war, ob man sich unter Fremden oder unter Freunden begegnete: Man gab sich die Hand. Wo man nicht wusste, wem man vertrauen konnte und wem nicht, behielt der Handschlag seine besondere Symbolkraft, auch wenn dies den meisten vielleicht gar nicht bewusst war. Und manch einer schwor darauf, dass ein fester Händedruck auf besondere Vertrauenswürdigkeit schließen lässt. Man kann aber auch mit einem Händedruck lügen, wie Hitlers Handschlag am «Tag von Potsdam» zeigt.
Soll man oder soll man nicht? In den letzten fünfundzwanzig Jahren hat sich das Händeschütteln vom Osten Deutschlands aus wieder im ganzen Land verbreitet. Auch junge Leute begrüßen sich wieder per Handschlag und sind irritiert, wenn ihr Gegenüber ihnen diesen verweigert. Manche Zeitgenossen wollen das als Ausdruck eines wiedererwachten Bedürfnisses nach Verbindlichkeit und Formen sehen; man kann es aber auch, mit dem Wissen um das Symbolische des Handschlags, als ein Zeichen dafür nehmen, dass die ehrwürdigen Tugenden Treu und Redlichkeit noch längst nicht zum alten Eisen
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