Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)
«Einen halben Liter später bemerkt er, dass seine Freunde langweilig sind, und beginnt mit Fremden zu reden. Nach dem dritten Bier hält sich der Engländer für unwiderstehlich, witzig und attraktiv.» Der Bayer im Bierzelt dagegen fühle sich «schneller als der Engländer, nämlich schon nach dem zweiten Bier, bemüßigt, Fremden Witze zu erzählen». Und mit dem nächsten Glas, so Boyes, wechsle die Laune: «Er beginnt sich über die Saupreissn und die Sozis zu beschweren.» Mir erscheint der Hauptvorzug eines deutschen Bierzelts gegenüber einem englischen Pub darin zu bestehen, dass in Ersterem nicht immer im schönsten Moment das Licht angeht und der Ruf ertönt: «Last Call!»
Und doch gibt es, was die Tugend der Trinkfestigkeit anbelangt, einen bemerkenswerten Unterschied. In England gilt: Man darf über die Stränge schlagen, ja, in einem gewissen Alter muss man es sogar tun – auch dann, wenn es sich um den Prinzen von Wales handelt. Aber nichts, was in einer gemeinsam durchzechten Nacht passiert ist, hat am nächsten Morgen noch Gültigkeit, keine Verabredung und keine Verbindlichkeit. Niemand der Beteiligten wird sich herbeilassen, überhaupt noch einmal darauf zurückzukommen. Das erscheint mir als eine Tugend, die man sich uneingeschränkt zum Vorbild nehmen kann.
Wenn mir in meinen langen Jahren in Deutschland noch eine spezifische deutsche Eigentümlichkeit aufgefallen ist, soweit es das Trinkverhalten betrifft, dann diese: Oft höre ich hier, manchmal schon nach dem ersten oder zweiten Getränk, die Frage nach dem probatesten Mittel für den Kater am nächsten Morgen. Als ob es dafür ein Allheilmittel gäbe! Konrad Adenauer hat bekanntlich bei seinem ersten Staatsbesuch in Moskau seine Entourage angewiesen, vor dem Zusammentreffen mit der russischen Delegation prophylaktisch ein, zwei Löffel Olivenöl zu sich zu nehmen, um die Wirkung des Wodkas zu neutralisieren. Frau Bauer, die Haushälterin des Verbindungshauses in Tübingen, verabreichte mir an jenem denkwürdigen Morgen nach meiner Renoncierung ein paar Löffel von ihrem hausgebrannten Magenbitter. Immer wieder habe ich hierzulande die Empfehlung vernommen, man solle am nächsten Morgen mit dem wieder anfangen, womit man am Abend vorher aufgehört hat. Ein Bier und ein Schnaps auf nüchternem Magen – wie viele Kater wurden damit nicht schon in die Flucht geschlagen.
Aber das beste Katerrezept verdanke ich dem Barmann der American Bar im Londoner Savoy, Peter Dorelli. Wir hatten den vierzigsten Geburtstag eines Kommilitonen bis in die frühen Morgenstunden gefeiert. Pünktlich um zwölf Uhr mittags öffnete Peter Dorelli wie jeden Tag seine Bar. Er sah mich nur an und fragte: «Ist es sehr schlimm?» Als ich nickte, meinte er: «Dann hilft nur The Holy Trinity , die Heilige Dreifaltigkeit.» Ich nahm an, er wolle mich auf den Arm nehmen. Dorelli stellte drei Gläser auf die Bar, ein Schnapsglas, ein Wasserglas und ein Champagnerglas, und füllte sie nacheinander mit Fernet Branca, Wasser und Champagner. «Das trinkst du jetzt hintereinander aus», wies er mich an. Ich tat es: Der Kräuterschnaps beruhigte den Magen, das Wasser half gegen die Austrocknung, und der Champagner regte den Kreislauf wieder an. Und im Nu hatte sich der Kater verzogen.
Weltschmerz
A ls Georg Forster im Jahr 1775 von seiner großen Weltreise zurückkehrte – er nahm an der zweiten Expedition von James Cook in die Südsee teil –, wurde er überall in Deutschland begeistert gefeiert. Ein jeder wollte ihn sehen und hören und etwas erfahren über jene neue Welt, die man nur vom Hörensagen kannte. Sein Bericht über die Reise, der wenig später erschien, wurde begierig verschlungen. Ebenso erging es ein Vierteljahrhundert später Alexander von Humboldt, der seine fünfjährige Reise nach Südamerika in eigenem Namen und ganz auf eigene Kosten unternahm – ein ganz und gar beispielloses Unterfangen. Zu seinen Kosmos -Vorlesungen in der Berliner Singakademie, in denen er die Summe seines Forscherlebens zog, strömte ganz Berlin, vom König und Minister bis zum Handwerker und Dienstmädchen.
Und mancher, der damals nicht in die Welt hinauszureisen vermochte, holte sich die Welt eben nach Hause, wie es der Universalgelehrte Friedrich Rückert im fränkischen Coburg tat. Vierundvierzig Sprachen beherrschte er fließend, von Afghanisch, Albanisch und Äthiopisch über Hindustan, Koptisch und Litauisch bis hin zu Syrisch, Tamil, Telugu, Tschagataisch und
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