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Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)

Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition)

Titel: Deutsche Tugenden: Von Anmut bis Weltschmerz (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Asfa-Wossen Asserate
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Türkisch. Er übersetzte den Koran und machte sich um die Orientalistik, aber auch um die Sprache meines Heimatlandes verdient. Es mag den ein oder anderen überraschen: Lange, bevor es in Deutschland eine Germanistik gab, gab es schon die Äthiopistik.
    Überall, wo man hinblickt in Deutschland, trifft man auf eine erstaunliche Neugier auf die Welt. Die Deutschen gehören zu den reisefreudigsten Nationen. In keinem Land der Welt werden so viele Bücher aus anderen Sprachen übersetzt, und selbst auf kulinarischem Gebiet lässt sich die deutsche Entdeckerfreude verfolgen. Bis in die kleinsten Städte sind die unterschiedlichsten internationalen Restaurants vorgedrungen, und wer will, kann die Küchen fast aller Länder kennenlernen.
    Aber auch für die Nöte und Sorgen der Welt haben die Deutschen ein besonders offenes Ohr. Über die globalen Krisenherde berichten die Nachrichten und Zeitungen so ausführlich wie kaum anderswo; und Spendenaufrufe bei Hungerkatastrophen oder Tsunamiverwüstungen ergeben regelmäßig neue Rekordsummen an gesammelten Spendengeldern. In Talkshows wird über die Menschenrechtslage in Tibet und der Ukraine, die Kurdenfrage in der Türkei, die Verfolgung von Homosexuellen in Uganda und die Todesstrafe in den Vereinigten Staaten diskutiert. Und noch leidenschaftlicher ist die Debatte über Themen, die das Schicksal der Weltgemeinschaft betreffen – vom globalen Klimawandel über die Energieversorgung bis hin zu Fragen der Ernährung. Die verbreitete Sorge um die Zukunft des Planeten hat in Deutschland die Umweltbewegung und die Partei der GRÜNEN auf den Plan gerufen und in Regierungsverantwortung geführt.
    Sich nicht zufriedengeben mit der Welt, wie sie ist – das ist, wer will es bestreiten, ein höchst ehrenwertes Anliegen. Doch bisweilen zeichnet diese Debatten um das Wohl und Wehe der Welt ein missionarischer Eifer aus, der für Außenstehende kaum nachvollziehbar ist. Was man für sich selbst für gut und richtig erachtet, muss nicht automatisch auch für andere gut und richtig sein. Keine Nation kann für sich die Rolle des Weltgewissens in Anspruch nehmen, und keine Nation kann die Probleme der ganzen Welt auf sich schultern wie der «unglücksel’ge Atlas» in Heines Gedicht, der die «ganze Welt der Schmerzen» trägt. Das übersteigt bekanntlich das Menschenmögliche.
    Für das Leiden am eigenen Ungenügen angesichts der Unzulänglichkeit der Welt gibt es im Deutschen ein schönes Wort, das auch in andere Sprachen Eingang gefunden hat, darunter ins Englische, Polnische und Portugiesische: «Weltschmerz». Es verdankt sich Jean Paul, der es ursprünglich auf Gott höchstselbst bezog: «Nur sein Auge sah alle die tausend Qualen der Menschen bei ihren Untergängen. Diesen Weltschmerz kann er, so zu sagen, nur aushalten durch den Anblick der Seligkeit, die nachher vergütet.»
    Der Weltschmerz ist verwandt mit der Schwermut, auch Melancholie genannt. Der Melancholiker weiß um die Vergänglichkeit aller Dinge und alles Lebendigen, und deshalb ist ihm auch die Freude suspekt. Er mag versuchen, sich abzulenken, aber immer wieder wird er von der Gewissheit eingeholt, dass alles, was er tut und begehrt, nichtig ist. «Es ist alles eitel» – darum wusste auch Andreas Gryphius, der die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges mit eigenen Augen sah: «Du sihst/wohin du sihst nur Eitelkeit auff Erden. // Was diser heute bawt/reist jener morgen ein: // Wo itzund Städte stehn/wird eine Wiesen seyn // Auff der ein Schäffers Kind wird spielen mit den Heerden.» Und in seinem Gedicht Tränen des Vaterlandes, Anno 1636 heißt es: «Wir sindt doch numehr gantz/ja mehr den gantz verheret! …»
    Nach dem Barock hat die Romantik den Weltschmerz zur hohen Kunst kultiviert. Novalis’ Heinrich von Ofterdingen offenbarte er sich im Traum als eine geheimnisvolle blaue Blume. Caspar David Friedrich ließ ihn in seinen berühmten Gemälden durchscheinen: Dem Betrachter den Rücken zeigend und stellvertretend für ihn, richten die Mönche und Wanderer ihren Blick in die Ferne. Und bis heute erfreut sich der Wanderer über dem Nebelmeer höchster Beliebtheit bei deutschen Verlagen, wenn es darum geht, ein neues Buch über die deutsche Seele zu bebildern.
    Die Romantiker wussten auch, wie man diese Sehnsucht mit rauschenden Bächen und Wäldern, Burgen und Bergen, Poesie und Musik unablässig am Leben erhält. Denn das ist ja der Sinn der romantischen Sehnsucht: dass sie niemals ans Ziel kommen durfte,

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