Deutschland 2.0
eigenen Land. Ganze Landstriche im Osten veröden. Äußerlich scheint meist alles in Ordnung: Die Straßen
sind frisch geteert, die Häuser neu getüncht, der Marktplatz wurde mit freundlicher Unterstützung der EU auf Hochglanz poliert.
Doch hinter der glänzenden Fassade packt gerade wieder jemand seine Koffer. Mehr als 1,2 Millionen Menschen haben Ostdeutschland seit 1990 verlassen – Richtung Westen natürlich. In vielen Regionen vollzieht sich
in aller Stille einBevölkerungsaustausch. So wanderten in Mecklenburg schon ganze Dorfschaften ab. Die Häuser blieben stehen – und dienen nun
gestressten Berlinern als Freizeitdomizil. Das gab es übrigens schon öfter in Europa: zum Beispiel in der Toskana. Man glaubt
es kaum, aber bevor die Professoren und Alt-68er aus Deutschland kamen, haben dort tatsächlich italienische Bauern gelebt.
Der in Westdeutschland gern erhobene Vorwurf, die Ostdeutschen seien zu unflexibel, ist grotesk. Wer heute durch München spaziert,
hört dort öfter Sächsisch als in Berlin. 1989 gewannen die Ostdeutschen auch die Freiheit, sich vom heimischen Acker zu machen.
Fünfzehn Jahre nach der Wiedervereinigung ist es höchste Zeit, sich einzugestehen, dass dieser Prozess fürs Erste unumkehrbar
ist. Am Ziel gleichartiger Lebensverhältnisse muss das nichts ändern. Aber die Menschen interessieren sich nicht für Zielvorgaben,
sondern für individuelle Zukunftschancen.
Am 3. Oktober 1990 trat die DDR der Bundesrepublik bei. So mancher im Westen dachte damals, die BRD sei nun einfach ein bisschen
größer geworden. So mancher im Osten glaubte fest, die westliche Ikea- und Fußgängerzonenrepublik würde über Nacht auch bei
ihm zu Hause Wirklichkeit. Beide Annahmen waren zwar nicht ganz falsch, aber richtig beschreiben sie die heutige Wirklichkeit
natürlich auch nicht. Wir leben in einem neuen Deutschland. Das Land ist noch immer auf dem Sprung. Für die Ostdeutschen hat
sich fast alles verändert im Leben. Das Problem dieses Landes liegt allerdings eher darin, dass die Westdeutschen in den Neunzigern
dachten, für sie könne eigentlich alles so weitergehen und die Bundesrepublik sei lediglich ein bisschen größer geworden.
Doch dieser Gedanke war der größte Irrtum der Wiedervereinigung. Er zog viele weitere Missverständnisse nach sich.
Mythen, Fehler, Irrtümer
Es war kein Zufall, dass Thorsten Schilling ins Westberliner Exil ging – und nicht etwa nach Wanne-Eickel. West-Berlin war
in den siebziger und achtziger Jahren eben der Ort, wo man sein musste. Keine Stadt in Deutschland versprach mehr Abenteuer.
Wenn einen das Fernweh trieb, man aber im Lande bleiben wollte, weil das Geld oder der Mut für die USA oder Australien nicht
reichte, ging man nach West-Berlin. Zwischen der neuen Heimat und der eigenen Vergangenheit lagen dann keine Ozeane, aber
dazwischen stand immerhin die Rote Armee. In West-Berlin gab es weder Sperrstunde noch Wehrpflicht, das Leben war billig,
es zählte nicht nur der Erfolg (wie in Hamburg, München oder Düsseldorf), sondern auch der Versuch. Manchmal klappte es: In
West-Berlin wurde Ende der Siebziger die »Neue Deutsche Welle« erfunden und etwa zur gleichen Zeit die ›taz‹. West-Berlin
war trendy, was hier geschah, wurde in Westdeutschland schnell nachgemacht – und im Osten übrigens auch.
Als ich im Sommer 1987 zum ersten Mal den Prenzlauer Berg besuchte und im »Prater« landete, einem Biergarten mitten im Kiez,
den es heute noch gibt, traute ich meinen Augen nicht: Die Gäste sahen dort genauso aus wie in Kreuzberg. Man rauchte und
trank viel, trug mit Vorliebe schwarze Jeans und schwarze Hemden und diskutierte über Gorbatschow (der erste KPdS U-Chef , der von der Mehrheit der Ostdeutschen wie ein Popstar verehrt wurde), den neuesten Film von Wim Wenders (den man im Osten
vom Hörensagen kannte) und die Musik der Einstürzenden Neubauten (die beim West-Berliner Alternativsender ›Radio 100‹ rauf-
und runtergedudelt wurde und es zu bizarrem Weltruhmbrachte). Dass der Prenzlauer Berg zum Hort der Opposition wurde, hatte auch mit der Strahlkraft der alternativen Szene West-Berlins
zu tun. Die Halbstadt, die sich zum Ärger der kommunistischen Machthaber in Pankow und Moskau auch während der Blockade 1948
gegen Hunger und Kälte behaupten konnte und ihre Bewohner mit alliierter Hilfe aus der Luft versorgen ließ, gehörte zu den
wirkungsmächtigsten Mythen der sogenannten
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