Deutschland 2.0
bosnischen Srebrenica bis zu 8000 bosniakische Männer im Alter von zwölf bis 77 Jahren von der serbischen Soldateska umgebracht wurden, schauten niederländische UN O-Soldaten hilflos zu. Am Vorabend des Massakers hatten sich ein UN O-Kommandeur und der später an das UN O-Tribunal in Den Haag ausgelieferte Serbengeneral Ratko Mladic noch gegenseitig zugeprostet. Die gespenstische Szene wurde damals fotografisch
festgehalten und ist ein beispielloses Dokument politischer Hilflosigkeit. Sie zeigt gleichzeitig, dass entschlossene Massenmörder
auch im Zeitalter der Massenmedien nicht an ihren Plänen gehindert werden können. Das beweisen nicht zuletzt die mörderischen
Vorgänge in der sudanesischen Provinz Darfur, wo unter den Augen der Welt seit Jahren ein Völkermord an der einheimischen
Bevölkerung verübt wird. Oder die brutale Niederschlagung der Oppositionsbewegung im Iran, die es nach den ganz offensichtlich
gefälschten Präsidentschaftswahlen gewagt hatte, gegen die Obrigkeit auf die Straße zu gehen. Die Demonstranten waren zwar
in der Lage, quasi live per Twitter, mit Handy-Videos oder in Blogs über die staatliche Repression zu berichten. Transparenter
als im Iran ist deshalb selten eine Protestbewegung zerschlagen worden. Am Ende aber bleibt leider wahr: Die Macht kommt aus
den Gewehrläufen, nicht aus einem Personal Computer oder einem Macbook.
Während auf dem Balkan in den neunziger Jahren nach Herzenslust gemordet wurde, waren die Rahmenbedingungen für Glück in Mitteleuropa
tatsächlich so gut wie lange nicht. Demokratie und politische Freiheit waren gesichert, von größeren Wirtschaftskrisen oder
gar Kriegen blieb die Bundesrepublik verschont. Was will man – zumindest in politischer Hinsicht – eigentlich mehr?
Natürlich ist Glück eine sehr individuelle Kategorie. Zwar kann kein Staat der Welt individuelles Glück garantieren. Das individuelle
Glück ihrer Bürger behindern oder zerstören können Staaten dagegen durchaus. Die Spitzelmaschine der Staatssicherheit in der
DDR hatte sich genau das zum Ziel gesetzt. Totalitäre Staaten begründen ihre politische Existenz immer mit einem gesellschaftlichenGlücksversprechen. Die Nationalsozialisten versprachen Kraft durch Freude in der reinrassigen Volksgemeinschaft, die Kommunisten
die Verwirklichung des Paradieses in einer klassenlosen Gesellschaft, in der soziales Unrecht für alle Zeiten aufgehoben ist.
In der Realität aber wurde nicht das Glück, sondern das Unglück zum gesellschaftlichen Programm.
In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 wurden von den Gründungsvätern »Leben, Freiheit und das Streben nach Glück« garantiert. Das war das Versprechen,
dass jeder, der etwas aus seinem Leben machen will, das in den USA auch versuchen konnte. Der Staat würde nicht im Wege stehen.
Eine Glücksgarantie war die Passage in der Präambel der Verfassung nicht.
Wenige Wochen vor Einführung der D-Mark ließ sich der erste und letzte frei gewählte Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maizière, zu einem Versprechen hinreißen:
»Niemand soll vergessen, was die Mark der DDR heute auf einem freien Markt wirklich wert wäre. Und niemand soll sich über
die tiefe Krise der DD R-Wirtschaft Illusionen machen. Wir konnten und können nicht so weiterwirtschaften wie bisher. Nicht alle Blütenträume, die manche mit
dem Staatsvertrag verbunden haben, konnten in Erfüllung gehen. Aber niemandem wird es schlechter gehen als bisher. Im Gegenteil.«
Vor allem der letzte Satz ist Lothar de Maizière stellvertretend für die damaligen Regierungen in Ost und West in den vergangenen
zwanzig Jahren ständig um die Ohren gehauen worden. »Niemandem wird es schlechter gehen« – das war in der Tat eine mutige
Behauptung. Ob es jemandem gut oder schlecht geht, hängt in einem demokratisch verfassten Rechtsstaat schließlich nicht nur
von der Regierung ab. In de Maizières Ansage steckte ein deutsches Missverständnis: Der DD R-Christdemokrat sah den Staat noch immer als Garant für das Wohlergehen seiner Bürger. Besser wäre wohl gewesen: »Die Regierung in Deutschlandwird dem Glück ihrer Bürger künftig nicht mehr im Wege stehen. Und falls das Volk doch diesen Eindruck gewinnen sollte, kann
es diese Regierung abwählen.«
Dennoch bedarf es der Erläuterung, wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel zwanzig Jahre später in einem Interview erklärt: »Die
Wiedervereinigung ist ein
Weitere Kostenlose Bücher