Deutschland 2.0
kommunistischer Sündenstolz: Mit Hilfe von Akten, die er in seinem Panzerschrank aufbewahrt hatte, konnte ihm
die Staatsanwaltschaft die Beteiligung an der Ermordung zweier Berliner Polizisten im Jahr 1932 nachweisen. Mielke flüchtete
nach der Tat in die Sowjetunion, wo er auf der Lenin-Schule eine politische und militärische Kaderausbildung erhielt. 1936
ging er als Kaderoffizier in den spanischen Bürgerkrieg. Dort kämpfte er weniger gegen die Faschisten als gegen sogenannte
trotzkistische und anarchistische Abweichler in den eigenen Reihen. Mielke wurde von der »westdeutschen Siegerjustiz« wegen
der »Bülowplatzsache« zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Nach zwei Jahren wurde er wegen Haftunfähigkeit entlassen.Er schlief im Mai 2000 mit 92 Jahren in einem Berliner Altenpflegeheim friedlich und in Freiheit ein.
Die Frage, wie hart man mit denen ins Gericht gehen sollte, die für Verfolgung und Bespitzelung, für Mauer und Stacheldraht
verantwortlich waren, beschäftigt bis heute die Republik. Der ehemalige Bürgerrechtler und heutige brandenburgische Ministerpräsident
Matthias Platzeck hat sich im Herbst 2009 in einem viel beachteten Essay für den ›Spiegel‹ mit dem Thema auseinandergesetzt.
Welche Entwicklung hätte Deutschlands Westen wohl genommen, wären die Gegner und Feinde von einst nach 1945 derart unversöhnlich
miteinander verfahren, wie wir ehemaligen Kontrahenten des Kalten Krieges und der DDR es bis heute vielfach tun? »Alle postdiktatorischen
Gesellschaften stehen vor demselben Grundproblem: Wie weit sollen belastete Gruppen von Menschen in die neue demokratische
Gesellschaft integriert werden?«, schrieb der Sozialdemokrat unter der Überschrift »Versöhnung ernst nehmen«. Mit seinem Beitrag
empfahl sich Platzeck, der gerade ein Regierungsbündnis seiner Partei mit der Linken besiegelt hatte, als Koalitionspolitiker
mit historischem Weitblick und staatspolitischem Auftrag: »Die gelungene Demokratisierung, die Westdeutschland nach 1945 sehr
zügig zu einem anerkannten Staat unter Gleichen machte, konnte überhaupt nur unter der Voraussetzung gelingen, dass ehemalige
Mitläufer und, wo verantwortbar, selbst Täter des Nationalsozialismus nicht dauerhaft ausgegrenzt blieben, sondern einbezogen
wurden.«
Doch schon wenige Wochen nach seinem »Versöhnungsessay« flog Platzeck seine Koalition mit der Linkspartei um die Ohren. Ein
Stasi-Spitzel nach dem anderen wurde in der Landtagsfraktion der Ex-SED enttarnt. Zur Versöhnung gehöre auch Wahrhaftigkeit,
bemerkte Bundeskanzlerin Merkel damals spitz – und Platzeck konnte ihr kaum widersprechen. Die Bedingungen für eine gesellschaftliche
Versöhnung zwischen Opfern und Täternkönnen kaum von den Tätern diktiert werden. Zur politischen Instrumentalisierung eignet sich das Thema ebenfalls nicht. In
Wahrheit schwebte Platzeck wohl auch keine Versöhnungskoalition vor – der sozialdemokratische Pragmatiker war vor allem an
einer funktionsfähigen Regierung interessiert. Ein Bündnis mit der zerstrittenen Brandenburger CDU erschien ihm zu gefährlich.
Was Platzecks Entscheidung 2009 so unappetitlich machte, war nicht einmal sein Plazet für die Linkspartei. Koalitionen zwischen
SPD und PDS hatte es auch schon vorher in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern gegeben. Die Bundesländer sind deshalb nicht untergegangen.
Doch Platzecks bemühter Versuch, diesem rot-roten, preußischen Zweckbündnis so etwas wie politische Seele und historische
Bedeutung einzuhauchen, wirkte nicht nur auf ehemalige SE D-Opfer vermessen. Dazu kam, dass die Bürgerrechtler im zwanzigsten Jubiläumsjahr des Mauerfalls fast gänzlich aus der deutschen
Politik getilgt worden waren, während ehemalige Stasi-Beschäftigte und Spitzel in Potsdam eine Regierung stützten. Versöhnung
sieht anders aus.
Fehler im Einigungsprozess gab es also eine Menge. Der kardinale Irrtum bestand am Anfang wohl in der Annahme, dass ein substantieller
Teil der DD R-Industrie lebensfähig sei. Manches wird wahrscheinlich ewig umstritten bleiben – wie etwa der frühe Umtausch von einer Mark Ost zu
einer D-Mark West zum 1. Juli 1990 oder das Wirken der Treuhand, die Tausende ehemalige DD R-Betriebe »abwickelte«, wie es damals unsentimental hieß. Hätte ein späterer Umtausch oder zu anderen Konditionen DD R-Betriebe gerettet? Ist bei der Treuhand das Geld zum Fenster hinausgeworfen worden, hat man das Potenzial ehemaliger
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