Deutschland 2.0
Wenige Politiker auf der Welt können so eine Bilanz vorweisen.
Kohl hätte vermutlich auch nichts dagegen gehabt, sich den Nobelpreis mit den Gründern des Neuen Forums zu teilen, die im
Wendejahr maßgeblichen Anteil am Zerfall des SE D-Staats hatten. Aber historische Leistung und Erfolg werden in der Politik nicht zwangsläufig honoriert. Es hat auch nicht jeder
bedeutende Filmschauspieler oder Regisseur einen Oscar bekommen, selbst Alfred Hitchcock ging bei dieser Auszeichnung leer
aus. Und dass ausgerechnet ein deutscher Konservativer von einem eher linksgewirkten schwedischen Gremium ausgezeichnet wird,
darf man vermutlich gar nicht erst erwarten.
Auf einer Gedenkveranstaltung im Berliner Friedrichstadtpalast brachte Altkanzler Helmut Kohl zwanzig Jahre nach dem Mauerfall
die Wiedervereinigung auf einen sehr persönlichen Punkt. Manchmal kaum verständlich, nuschelte er im Rollstuhl zwischen Gorbatschow
und George Bush senior sitzend: »Ich hatte nichts Besseres, um stolz zu sein, als die Einheit.«
Das klang, wie oft bei Helmut Kohl, etwas ungelenk. Und doch waren es die Worte eines großen Europäers.
Helmut Kohl war in einem Land groß geworden, das mit furchtbarer Schuld beladen war. Worauf konnte ein junger Deutscher in
den fünfziger Jahren angesichts der katastrophalen Folgen des Holocaust und des Zweiten Weltkriegs schon stolz sein? In den
letzten Kriegstagen hatte Kohl zudem seinen älteren Bruder verloren, der noch zur Wehrmacht eingezogen worden war.
Dass die Deutschen in der DDR 1989 das Regime abgeschüttelt und die Einheit mit demokratischen Mitteln im friedlichen Europa
wiedergewonnen hatten, empfand er als Segen und Glück. Er wusste, dass dieses Happy End nicht selbstverständlich gewesen war,
und er empfand die jüngere deutsche Geschichte als Belastung. Den in Fürth geborenen und mit seiner jüdischen Familie 1938
in die USA emigrierten ehemaligen amerikanischen Außenminister Henry Kissinger hat Kohl in einem vertraulichen Gespräch einmal
etwas hemdsärmelig gefragt, was aus ihm denn geworden wäre, wenn er damals in Deutschland geblieben wäre. Kissinger war von
der Frage etwas überrascht und hätte wohl fast wahrheitsgemäß geantwortet, wie er später einmal auf einer internationalen
Konferenz einräumte. Wenn der kleine Henry in Franken geblieben wäre, hätten die Nazis ihn und seine Familie mit hoher Wahrscheinlichkeit
umgebracht. Aber der gebürtige Franke Kissinger verstand sofort, dass in der Frage des Pfälzers Kohl letztlich der Wunsch
nach Normalität und Nachbarschaft steckte, und antwortete: »Ich hätte in Nürnberg Jura studiert.«Darauf Kohl lachend und auf den alten Zwist zwischen Bayern und Franken anspielend: »Nein, du hättest in München Jura studiert.«
In Deutschland blieb Kohl, der Ende der Neunziger nach der verlorenen Bundestagswahl wegen einer massiven Parteispendenaffäre
auch noch sein Amt als CD U-Ehrenvorsitzender abgeben musste, der parteiübergreifende Respekt für seine Rolle in den Jahren 1989 / 90 lange verwehrt. Dennoch war es ein Glück, dass wir ihn hatten. Er war ein schlechter Redner, aber auf internationalem Parkett
offenbar ein guter Gesprächspartner, der seinem jeweiligen Gegenüber Vertrauen einflößte. Das war in der Politik schon immer
ein knappes Gut und ist in unruhigen Zeiten wie dem Zusammenbruch eines Weltreichs so entscheidend wie Wasser in der Wüste.
In seinen Memoiren hatte Kohl die neunziger Jahre als das »glücklichste Jahrzehnt des Jahrhunderts« beschrieben. Sofern sich
sein Urteil auf Deutschland beschränken sollte, hat er sicher recht mit seinem Urteil. Doch trotz aller Hoffnungen, die der
Zusammenbruch des Sowjetimperiums vor allem in Mittel- und Osteuropa auslöste, kann man Kohls Urteil nicht einmal auf den
ganzen europäischen Kontinent anwenden. Nur ein paar Hundert Kilometer jenseits unserer süddeutschen Landesgrenzen entfernt
brach Anfang der Neunziger ein blutiger Bürgerkrieg aus. Mehr als 100 000 Menschen fielen dem Gemetzel zwischen Serben, Kroaten und Bosniaken zum Opfer. Nicht nur auf dem Balkan, auch in Ruanda tobten
sich die bösen Geister des 20. Jahrhunderts noch einmal mit größter Mordlust aus. Dort wurden etwa eine Million Menschen regelrecht abgeschlachtet. Die Vereinten
Nationen konnten – manche Kritiker sagen: wollten – trotz ihrer Präsenz mit Blauhelmsoldaten die Genozide nicht verhindern.
Als im Juli 1995 im
Weitere Kostenlose Bücher