Deutschland 2.0
beiden Feldern kommen die Veteranen der DDR – in West-Berlin nannte
man sie »Tätärä«– ganz gut voran. Der Ausgang aller Geschichten und Geschichte ist eben immer offen.
Das gilt auch für die Wiedervereinigung und das Glück. Dass die Deutschen angesichts mancher einflussreicher Skeptiker im
europäischen Ausland auch Pech hätten haben können, wurde im vorigen Kapitel bereits verhandelt. Das Bewusstsein darüber ist
den Deutschen aber mit den Jahren verloren gegangen wie Hans im Märchen der Gebrüder Grimm der Goldklumpen. So schrumpfte
der historische deutsche Hauptgewinn im kollektiven Gedächtnis immer weiter zusammen, und manche empfinden die Einheit heute
als Bürde wie den Feldstein, den Hans am Ende seiner Grimm'schen Odyssee auch noch im Brunnen versenkte.
Diesen Endruck gewann man jedenfalls manchmal in der medialen Vermittlung des Themas im Herbst 2009. Repräsentative Umfragen vermitteln glücklicherweise ein anderes Bild. 86Prozent der Deutschen hielten die deutsche Wiedervereinigung einer Studie zufolge für die richtige Entscheidung. Die Zustimmung
ist im Osten Deutschlands sogar noch höher als im Westen. 91 Prozent der ostdeutschen Befragten bewerteten das Ereignis positiv, berichtete die Deutsche Presseagentur anlässlich des Mauerfall-Jubiläums.
Die Grundhaltung der Bevölkerung zur Wiedervereinigung war damit seit längerer Zeit stabil. Seit Anfang der neunziger Jahre
beurteilen rund vier von fünf Bundesbürgern die Einheit positiv. Bei einer Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen im Auftrag
des ZDF-»Politbarometers« hielten lediglich elf Prozent der Befragten die Wiedervereinigung für eine »falsche Entscheidung«,
drei Prozent hatten keine Meinung zu dem Thema.
Während Länder wie Polen, Tschechien oder Ungarn die Umwandlung von einer sozialistischen Planwirtschaft in eine Marktwirtschaft
selbst organisieren und vor allem finanzieren mussten, kam dem Osten der Westen zu Hilfe. Dieser Vorgang ist weltweit ohne
Beispiel. Wie viel Geld bisher genau in die neuen Länder geflossen ist, lässt sich exakt kaum ermitteln. Als ich im Herbst
2009 den Chef eines bedeutenden amerikanischen Think-Tanks nach seiner Meinung zum bisherigen Verlauf der Wiedervereinigung
fragte, antwortete er kurz und bündig: »Sehr beeindruckend, aber ein bisschen teuer!«
Über die genauen Kosten der Wiedervereinigung haben die Bundesregierungen seit jeher nicht gern gesprochen, so wie man auch
über den Kriegseinsatz der Bundeswehr in Afghanistan lange nicht ernsthaft debattiert hat. Die Gründe sind ähnlich: Zum einen
wollte man eine Neiddebatte vermeiden, zum anderen das Bild des deutschen Soldaten als Sozialarbeiter in Uniform nicht gefährden.
Das politische Stilmittel war mit behutsamer Verschleierung freilich dasselbe.
Während der damalige Bundesminister für den Aufbau Ost, Manfred Stolpe, im Herbst 2004 die reine Hilfe der West-Transfersgen Osten auf 250 Milliarden bezifferte, kam der Leiter des Forschungsverbundes SE D-Staat an der Freien Universität, Klaus Schroeder, damals bereits zu einem wesentlich höheren Ergebnis. Allein in den ersten fünfzehn
Jahren nach dem Mauerfall hatte der Aufbau Ost seinen Berechnungen zufolge etwa 1,5 Billionen Euro verschlungen – das entspricht etwa dem Rekorddefizit des U S-Haushalts 2010 nach den historischen Pleiten auf dem Bankensektor, die letztlich eine Weltwirtschaftskrise auslösten. Die gesamte Staatsverschuldung
von Bund, Ländern und Gemeinden in Deutschland liegt heute mit etwa 1,785 Billionen Euro nur unwesentlich höher (falls dieses Buch Weihnachten 2010 unter dem Christbaum liegen sollte, kann man das
Ergebnis ruhig mit 1,8 Billionen ansetzen).
Umso erstaunlicher ist es, mit wie viel deutschem Gleichmut diese astronomischen Anstrengungen in den vergangenen zwei Jahrzehnten
hingenommen worden sind. Zwar gibt es immer mal wieder den Versuch westdeutscher Politiker, den Solidaritätszuschlag für den
Aufbau Ost in Frage zu stellen. Insgesamt wird an diesem Pakt für den Aufbau aber nicht ernsthaft gerüttelt. Warum auch? Die
Ergebnisse können sich schließlich sehen lassen.
In seinen Untersuchungen fand Schroeder heraus, dass die Haushalte in Ostdeutschland inzwischen deutlich besser dastehen,
als meistens angenommen wird. Zu Beginn der Wiedervereinigung hätten sie kaufkraftbereinigt auf dem Niveau eines durchschnittlichen
westdeutschen Haushalts am Ende der fünfziger Jahre
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