Deutschland 2.0
es genau umgekehrt. Wessis empfinden sich vornehmlich
als Deutsche, Ossis »nur« als Ostdeutsche. Die Folgen der mentalen Trennung, so die Demoskopen, werden vermutlich noch zwanzig
bis dreißig Jahre fortwirken.
Wer vom Westen her zu einer kurzen Stippvisite in die neuen Bundesländer aufbricht, der vermisst mitunter beispielsweise Dankbarkeit
bei den Ex-DD R-Bewohnern . Ich habe das Mitte der neunziger Jahre einmal bei einem Ausflug der CS U-Bundestagsgruppe nach Mecklenburg und Thüringen beobachtet. Die Bayern tobten wie ein süddeutsches Gute-Laune-Kommando von Ort zu Ort, schlugen
bei ihren Spaziergängen an der Ostseepromenade bei Rostock oder einer Besichtigung der Krämerbrücke in Erfurt wildfremden
Ossis ungefragt auf die Schulter und riefen: »Super, wie hier der Aufbau funktioniert. Das hättet ihr euch vor zehn Jahren
nicht träumen lassen, oder? Hahaha!« In der Regel ernteten sie entgeisterte Blicke, was bei der CSU wiederum Irritationen
auslöste: »Ja mei, wos hat er denn?«
Westdeutsche behaupten auch gern, das »Jammern« sei weit verbreitet im »Beitrittsgebiet«. Dabei ist dieser als »Jammern« missverstandene
Ton oft nur der in manchen Regionen Ostdeutschlands gängige Versuch, ein Gespräch zu eröffnen. An der vorpommerschen Bushaltestelle
sagt man zum Nachbarn: »Ich glaub nich, dass der Bus pünktlich is«, anstatt: »Wie schön dieSchneeglöckchen heute wieder aus der Erde kommen.« Und dass man seinem Seelenschmerz bei allen möglichen Gelegenheiten auch
ungefragt Ausdruck geben darf, gilt ja in Deutschland inzwischen vielerorts ganz allgemein als Konversation. Dabei haben sich
seit der Wiedervereinigung überall im Land neue Grundmuster herausgebildet. Schuld an irgendeiner Misere sind mit Vorliebe
ferne – Berliner oder Brüsseler – Entscheidungsträger, Abhilfe erwartet man vom Staat, weniger durch eigene Initiative.
Zugegeben, wer Jahrzehnte in einem – zuletzt recht kümmerlichen – Versorgungsstaat aufgewachsen ist und gelebt hat, der hat
naturgemäß Mühe, der Sicherheit und Gängelei in allen Lebenslagen Lebewohl zu sagen. Adam Michniks Gedanken wurden in diesem
Buch bereits erwähnt. Die Freiheit bietet unbestritten mehr Möglichkeiten, aber auch mehr Risiken. Es kann gut gehen – oder
eben nicht. Und den älteren DD R-Bürgern fehlt nicht selten das Lob: die vielen kleinen und großen Orden und Auszeichnungen, die Titel, die ehrenvollen Erwähnungen,
Prämien, Berufsfeiertage, alles vorbei. Vielleicht war dieses Glück nur aus Blech und Papier, aber es zeigte Wirkung: »Man
war doch wer!«, hat mir eine ehemalige Angestellte des Ost-Berliner Verkehrsministeriums ihr DD R-Lebensgefühl beschrieben. Nicht direkt im Ministerium. Obwohl auch dies nicht außerhalb aller Möglichkeiten lag, schließlich hielt sich
die DDR 48 Minister und 286 stellvertretende Minister.
Zweihundertsechsundachtzig
! Die Angestellte des Verkehrsministeriums war dagegen nur eine kleine Sekretärin, unter anderem zuständig für die Verteilung
von Theaterkarten. Nicht für die Ministerspitze, nur für ihre kleine Abteilung, für 46 Menschen. Aber: »Man war doch wer!«
Die wenigsten Schwierigkeiten, sich den so grundsätzlich veränderten Zeitläufen anzupassen, haben jüngere Menschen, denen
eine Prägung durch das alte Regime zum Glück erspart geblieben ist. Ganz gut zurecht kommen natürlich auch diejenigen, die
sich getrost zu den kalten, gemütsarmen Charakteren zählenlassen müssen: Deshalb kommen zum Beispiel die einst »leitenden Kader« aus Staat, Partei und Sicherheitsorganen in den neuen
Zeiten im Allgemeinen gut über die Runden; vor allem, seit sie wissen, dass irgendwelche strafrechtlichen Folgen ihrer DD R-Tätigkeiten nicht zu befürchten sind. Sie mussten ihre Häuser nicht verlassen, die Kinder konnten im Westen Karriere machen und die Renten
sind auch sicher. Das waren 1989 die vier dunklen Sorgen der staatstragenden Persönlichkeiten – und davon gab es in der DDR
etliche Hunderttausend. Die Sorgen haben sich wie der Morgennebel rückstandlos verflüchtigt. Nun haben die Angehörigen der
DD R-Elite nur noch zwei Wünsche: Man möge ihre Leistungen in schwerer Zeit (1945 bis 1989) ordentlich anerkennen. Ein General der Nationalen
Volksarmee möchte dereinst auch als General mit allen militärischen Ehren der Bundeswehr beerdigt werden, was zurzeit noch
verboten ist. Und: Sie möchten wieder mitregieren. Auf
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