Deutschland 2.0
unvorstellbares Glück!« Frau Merkels Urteil basiert auf solidem Fundament: Sie ist, obgleich in
Hamburg geboren, schon als Kleinkind in die DDR geraten – ihr Vater war evangelischer Pfarrer und siedelte in Gottes Namen
dorthin um. Die kleine Angela hat alles mitgemacht: die realsozialistische Grund- und Oberschule, das Russischpauken, die
FD J-Abende . Wegen ihrer exzellenten Leistungen durfte sie Physik studieren und später an der Akademie für Wissenschaften ihre Doktorarbeit
schreiben. Morgens um sieben, auf dem Weg mit der klapprigen S-Bahn ins Labor, las sie die ›Prawda‹. Deshalb ahnte sie als eine der Ersten, dass es mit der DDR nicht mehr lange so weitergehen
würde. Als die Herrschaft der Politikergreise Ende 1989 kollabierte, nahm die intelligente Naturwissenschaftlerin Abschied
von der Experimentalphysik und wurde Berufspolitikerin. Dass sie jemals deutsche Bundeskanzlerin werden würde, das konnte
weder Angela Merkel, die ostdeutsche Pfarrerstochter aus der Uckermark, noch irgendjemand anderes vorausahnen. Es war auch
viel Glück dabei.
Eine Mischung aus so viel Glück, so viel sichtbaren Erfolg und ein rasanter Aufstieg in die höheren Sphären von Politik, Wirtschaft
und Gesellschaft ist logischerweise ein Unikat: eine (oder einer) kann es haben, nur eine(r). Doch ist die Wiedervereinigung
für Angela Merkels Jahrgänge, ja für das ganze deutsche Volk, »ein unvorstellbares Glück«? Sie profitieren doch alle gleichermaßen
von Reise- und Meinungsfreiheit, von neuer Währung und Konsum, von der Möglichkeit, den Arbeitsplatz selbst zu suchen und
zu wechseln, in eine Partei oder Gewerkschaft einzutreten – oder es zu lassen. Die Ostdeutschen können seit1990 vor Zivil-, Arbeits-, Sozial- und Finanzgerichte ziehen und ganz selbstverständlich den eigenen Staat verklagen, nicht
selten mit staatlicher Finanzbeihilfe für die Anwaltskosten übrigens. In der DDR, die sich selbst ja als Diktatur (der Arbeiterklasse)
verstand, gab es keine Verwaltungsgerichtsbarkeit, allein diese Tatsachen begründen den Titel »Unrechtsstaat« allemal. Und
die ubiquitäre Spitzelei – denn das Ministerium für Staatssicherheit, das MfS, konnte überall dabei sein, sogar im Ehebett
– auch dieser menschenverachtende Zustand ist passé.
Es ist nur viel verlangt, sich dieser neuen Lebensumstände als »unvorstellbares Glück« gewärtig zu sein, sozusagen permanent
und anlasslos, denn die menschliche Psyche funktioniert nicht so. Wer sechs Richtige im Lotto hat und Millionär wird, der
schwebt danach wie auf Wolken, glückselig eben. Doch wie lange? Jahrelang? Jahrzehntelang? Nein, leider nicht. Die Glücksforscher
sind sich einig: Großes Lottoglück, die berühmten sechs Richtigen, stimulieren Stimmung und Gemütslage im Durchschnitt nur
sechs Monate. Danach schwingen die schönen Seelenregungen in den alten Normalzustand zurück. Dann ärgert man sich darüber,
dass einen das Navi im neuen Mercedes schon wieder verlässlich in den nächsten Stau geführt hat, dass die Kameraanlage an
der Villa ausgefallen ist oder der Cateringservice bei der letzten Party den falschen Champagner aufgetischt hat. Glücksgefühle
sind, ebenso wie Dankbarkeit, gute Vorsätze oder edle Regungen, offenbar keine immerwährenden Gefühle.
Diese psychologische Banalität – niemand bestreitet sie – führt beim Zusammenleben zwischen Ost und West jedoch noch immer
zu Verstimmungen. Trotz der tendenziellen Annäherung der Lebenswelten halten sich die Vorurteile hartnäckig. Nur ein Prozent
der Ostdeutschen hält sich selbst für arrogant, schreibt diese unsympathische Wesensart aber 79 Prozent der Westdeutschen zu. Und obwohl seit beinahe zwei Jahrzehnten Milliarden in den Osten fließen, hält man dort nur
ein Prozent der Wessisfür hilfsbereit, wie in einer im März 2010 veröffentlichten Studie über signifikante Ost-West-Unterschiede des Allensbach-Institutes
zu lesen war. Die Wessis sind nur aufs Geld aus, glauben 61 Prozent der Ossis. Über sich selbst sagen das nur sechzehn Prozent der Westdeutschen. Als »bescheiden« titulieren sich 72 Prozent der Ostdeutschen, halten diese Eigenschaft im Westen mit zwei Prozent aber faktisch für nicht existent. Wessis und
Ossis halten sich jeweils für politisch interessierter als ihre Landsleute, für ehrlicher natürlich auch. Wohl die wichtigste
Differenz: Im Westen bewertet man Freiheit höher als Gleichheit, im Osten ist
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