Deutschland 2.0
gelegen. Mitte der neunziger Jahre hätten sie bereits das westdeutsche
Niveau von 1992 erreicht. Das bedeute einen »Wohlstandssprung« innerhalb von fünf Jahren, für den Westdeutschland dreißig
Jahre gebraucht hatte.
In den ersten Jahren der Einheit legte die Wirtschaft in den neuen Ländern mit jährlichen Wachstumsraten von bis zu acht Prozent
kräftig zu. Ab Mitte der neunziger Jahre verlangsamtesich diese Aufholjagd und stagnierte dann eine Weile. Auch die jüngste Weltwirtschaftskrise hat die Ost-Ökonomie empfindlich
getroffen.
Doch trotz dieser Schwankungen ging es tendenziell aufwärts. Das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner wuchs von rund vierzig
Prozent des westdeutschen Standards auf zwei Drittel im Jahr 1996 und erreichte im Jahr 2005 schließlich 75 Prozent. Auch von einem betriebswirtschaftlichen Kahlschlag durch die Treuhand kann bei genauer Betrachtung keine Rede sein.
Die Treuhand hat von den mehr als 12 000 Unternehmen, die aus den ehemaligen volkseigenen Betrieben und Kombinaten hervorgegangen waren, rund dreißig Prozent stillgelegt.
Mehr als die Hälfte aber wurde privatisiert, wobei es oft zu betriebsbedingten Kündigungen kam. Die wenigsten VEB waren bei
Übernahme konkurrenzfähig. Weitere dreizehn Prozent gingen zurück an Alteigentümer, drei Prozent kamen in kommunale Trägerschaft.
Allein in dieser Sparte des Aufbaus Ost landeten etwa 1,4 Billionen Euro: Investitionshilfen, Innovationsförderung, Infrastrukturverbesserung, Sozialpläne. Bis 2019 werden dafür noch
weitere 156 Milliarden Euro fließen.
Per Saldo – Anmeldungen minus Abmeldungen – wurden nach Angaben des Bundesinnenministeriums in den neuen Ländern allein zwischen 1990
und 2005 etwa 850 000 neue Unternehmen gegründet. Das Haushaltsnettoeinkommen in den neuen Ländern stieg von 54,4 Prozent 1990 auf über achtzig Prozent des durchschnittlichen westdeutschen Niveaus. Die großen Gewinner der Einheit waren
in finanzieller Hinsicht vor allem die ostdeutschen Rentner: In der DDR gehörten sie als nicht produktive Elemente zu den
klaren Verlierern. Ihre Grundversorgung lag 1988 bei gerade 37 Prozent der ohnehin niedrigen Bruttoeinkommen. Meine Großeltern mussten in der DDR jeden »Alu-Chip« umdrehen, die Wohnungseinrichtung
war mehr als spartanisch,statt Farbfernseher oder HiFi-Anlage mussten auch noch in den achtziger Jahren ein flimmerndes Röhrenradio und ein Schwarzweiß-TV
mit Wackelkontakt genügen. Auslandsreisen waren völlig utopisch, auch nicht nach Polen oder ans Schwarze Meer: zu teuer. Urlaub
machten Opa und Oma bei uns im Westen – denn ab 65 durfte man ohne große Probleme »rüber«. Wer die DDR als Rentner verlassen
wollte, bekam keine Steine in den Weg gelegt. Die Übersiedlung ins nichtsozialistische Ausland, der Umzug zum Klassenfeind,
entlastete die DD R-Rentenkassen und wurde in der Regel schnell genehmigt.
Meine Großmutter mütterlicherseits lebte 1988 noch in einem einfachen Bauernhaus mit Außenklo. Sie starb an einem Oberschenkelhalsbruch
im Winter 1988, als sie morgens das Haus verließ und auf dem spiegelglatten Hof ausrutschte. Daran war die SED natürlich nicht
schuld – an der unwürdigen Behandlung vieler alter Menschen dagegen schon. Als ehemalige Hausfrau und Kirchgängerin hatte
meine Großmutter vom SE D-Staat nicht viel zu erwarten. Diese strukturelle Missachtung zeigte sich noch nach ihrem Tod im bitterkalten Dezember: Der staatlich
bestellte Friedhofsdiener hatte ihr Grab zu klein ausgehoben, so mussten meine aus dem Westen angereisten Onkel mit Spitzhacke
und Spaten den Frostboden bei der Beerdigung bearbeiten, bis der Sarg endlich in die Grube passte. Der Friedhofsdiener schlief
unterdessen seinen Rausch aus.
Prominente SE D-Größen oder Mitarbeiter von Mielkes Spitzelimperium mussten sich dagegen keine Sorgen machen, dass nach ihrem Ableben etwas schiefgehen
könnte. Darüber wachte im Ministerium für Staatssicherheit ein eigenes Ressort. Im Hausjargon nannte man sie die Abteilung
»Freud und Leid«. Die zehnköpfige Truppe betreute pensionierte Geheimdienstler, seine Stasi-Schäfchen, »bis der Sargdeckel
zufiel«, wie mir der ehemalige Stasi-Major Hubert Hunold einmal nach der Wende erklärte.
Über dreißig Jahre lang war Hunold damit beschäftigt, verstorbenen »Kundschaftern des Friedens« – so wurden Spione in der
DDR genannt – einen ehrenvollen Abschied zu bereiten.
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