Deutschland 2.0
Bestattungsunternehmen in den verhassten Kapitalismus und die Marktwirtschaft integrierte,
gehört vielleicht zu den bemerkenswertesten Erfolgen der deutschen Einheit, auch wenn diese Vorgänge bisher kaum bekannt sind.
Wer die DDR als normaler Rentner überlebte, hatte es im neuen Deutschland sofort deutlich besser. Weil in der DDR meist beide
Ehepartner erwerbstätig waren und das Rentenniveau nach der Wende entsprechend angehoben wurde, bekamen Pensionäre im Osten
nach der Wende oft höhere Renten als im Westen ausgezahlt. In der alten Bundesrepublik wurde darüber zuweilen gemurrt – ein
unfairer Neidreflex, denn viele Ex-DD R-Bürger , die ihr Leben im realen Sozialismus verbringen mussten, konnten erst nach der Wende nachholen, was für Bundesbürger ganz
normal war: Urlaub im westlichen Ausland, spontane Städtereisen oder auch nur ein Restaurantbesuch ohne die nervige Vorwarnung:
»Bitte warten, Sie werden platziert!«
Vergleicht man heute die Ausstattung durchschnittlicher Wohnungen in Ost und West, so ist fast kein Unterschied mehr auszumachen.
Autos und Telefone – in der DDR seltene Luxusartikel, auf die man jahrelang warten musste – finden sich heute in so gut wie
jedem Haushalt. Auch Waschmaschinen, Farbfernseher und Stereoanlagen fehlen heute fast nirgends. Wem diese Indikatorendes Lebensstandards zu materiell sind, den überzeugt vielleicht ein Blick auf die durchschnittliche Lebenserwartung: Sie stieg
von 1991 bis 2007 in den neuen Bundesländern von 69,75 Jahre auf 75,80 bei Männern und von 75,81 auf 82,02 Jahren bei Frauen. Die Lebensqualität in den neuen Ländern ist nach der Wende also eindeutig gestiegen. Die Gründe dafür sind
offensichtlich: Der stinkende Raubbau an der Natur, die industrielle Verpestung ganzer Regionen, wurde abgestellt, in Saale
und Elbe kann man heute wieder baden. Das Gesundheitssystem ist leistungsfähiger als noch in der DDR, die Ernährung ist besser
geworden, die Qualität und die Auswahlmöglichkeiten von Lebensmitteln sind deutlich gestiegen. Vermutlich sind die meisten
Menschen heute insgesamt frohgemuter als früher, auch wenn sie das vielleicht nicht immer zugeben. Die Statistik spricht jedenfalls
für sich. Und woran soll man den Erfolg und das Glück der Einheit messen, wenn nicht an der gestiegenen Lebenserwartung der
Deutschen in Ost und West?
Diese erfreuliche Entwicklung ist keineswegs naturgegeben. Manche Landstriche in Osteuropa haben sich in den vergangenen Jahrzehnten
nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums nicht etwa nach vorn, sondern rückwärts entwickelt. Zwischen St. Petersburg und
Moskau regredieren ganze Ortschaften in die Lebenswelten des 19. Jahrhunderts: kaum ärztliche Versorgung, kein Strom, spätmittelalterliche Landwirtschaft. Auch im Osten Polens lassen sich
solche Elendslandschaften besichtigen, etwa eine Tagesreise von Berlin mit dem Auto entfernt. Die Frauen flüchten in die westlich
gelegenen Städte, die Männer in den Alkohol. Und während die Dorfbevölkerung vergreist, lassen die Rentner beim Dorfkrämer
ab Mitte des Monats für Speck und Brot anschreiben.
Man darf annehmen, dass die Realität in vielen Städten und Dörfern Brandenburgs, Vorpommerns oder Mecklenburgs heute nicht
viel anders aussähe, wenn die deutsche Einheit nicht nur andas Versprechen auf Freiheit, sondern seinerzeit auch an ein vergleichbares Lebensniveau gekoppelt worden wäre. Während der
Stand der Einheit aber in all seinen ökonomischen, politischen und psychosozialen Facetten wie kaum ein anderes deutsches
Phänomen quasi permanent von Meinungsforschern, Gutachtern und Demographen analysiert worden ist und damit vermutlich zu den
am besten bewachten Ereignissen der jüngeren europäischen Geschichte gehört, findet man kaum Analysen oder fundierte Szenarien
darüber, wie sich die DDR ohne den sogenannten Anschluss an Westdeutschland entwickelt hätte. Aber wie gesagt: Ein Ausflug
in manche Regionen Osteuropas gibt über diese Frage reichlich Antwort.
Die in diesem Buch bereits behandelte Landflucht aus Ostdeutschland wird von Kritikern oft als stärkster Einwand gegen den
Verlauf der Einheit angebracht. Verlassene Dörfer, getrennte Familien, leer stehende Wohnungen in ostdeutschen Kleinstädten,
in denen immer weniger Menschen leben wollen – auf den ersten Blick mag man in die Klage über den Bevölkerungsschwund miteinstimmen.
Auf der anderen Seite steckt in diesem
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