Deutschland macht dicht (German Edition)
den Mann, der sie bedroht hatte, mit plötzlich kalkbleichen, wütenden Gesichtern an und zischten:
»Ein Dirrigisssssst!«
»Ein Gewerrrrkssssssschaftler!«
Trotz allgemeinem Lärm bekamen das auch andere Tobsüchtige mit. Gleich riefen welche: »Feind des Eigentums!«
»Ein Wohlfahrtsstaatler!«
»Marktverächter!«
Wie Vogelrufe oder Alarm unter Erdmännchen machte die Erregung sich unter den Irren in der Kiesgrube breit. Bald waren alle Einzelbrandherde gelöscht, alle Händel zum Stillstand gelangt und sämtliche Ökonomenaugen auf den ältesten Kommunisten Deutschlands gerichtet. Der stand fest und tapfer da. Mandelbaum aber flüsterte ihm zu: »Taktischer Rückzug, Genosse. Schlag dich in die Gasse drüben, beim Fotoladen.«
»Ich weiß nicht ...«, zögerte der alte Mann, der sich mit dem Nachgeben schlecht auskannte.
»Hol doch Dings ... hol doch deine Arbeiter. Nur Arbeiter können das hier abstellen, oder?« wisperte Rosalie, diplomatisch geschickt. Mandelbaum summte leise und zustimmend: »Mhmhm. Wir lenken diese Leute so lange ab. Rosalie?«
»Ja?« sagte das Mädchen und ließ die Ökonomen nicht aus den Augen, die nun an allen Punkten der Kiesgrube Anstalten machten, die Schräge emporzukraxeln, um oben einen Ring um die Eindringlinge ziehen zu können. Armee der Aktuatoren oder nicht, dachte Rosalie, sie bewegen sich zumindest in militärischer Choreographie.
»Du mußt jetzt laut brüllen, was ich dir ins Ohr flüstere«, riet ihr Mandelbaum.
»Alles klar«, sagte Rosalie, während der Kommunist langsam rückwärts von der Grube fortwich und sich dann, mit einem letzten Blick über die Schulter, abwandte und davontrippelte, um auf den Gassen und in den Straßen Arbeiter und Entlassene suchen zu gehen.
Als sie sahen, daß der Ketzer sich davonmachte, beschleunigten die Verrückten ihre Kletter- und Stolperunternehmungen. Die beiden ersten hatten es bereits geschafft und wollten schon losrennen, um die Verfolgung aufzunehmen, da rief Rosalie aus Leibeskräften, was Mandelbaum ihr eingegeben hatte:
»Wo sind wir? Befinden wir uns auf dem Gipfel, in der Rezession, im Tal, in der Expansion, in der Erholung, im Boom oder in der Depression?«
Sofort antwortete ihr ein vielstimmiges Gemurmel:
»Nun ja, mindestens sechs Monate ...«
»Im nächsten Quartal wird wohl ...«
»Man kann die Zinssenkung ...«
Ermutigt vom Erfolg brüllte Rosalie weiter: »Wo bleibt die unsichtbare Hand? Hatte Keynes rechtoder Friedman? Wann kommt der Innovationsschub? Und welche Folgen zieht er nach sich? Was halten Sie von Eurobonds? Wer meldet sich als Market Maker?«
»Der neue Markt ist wieder da!« antwortete einer aus dem zerzausten Chor und wurde sofort von zwei in seiner Nähe Stehenden bedrängt, die zusammen mit ihm abrutschten und die gebahnte Kiesfurt verloren.
»Wechselfälscher!« schubste einer der Haarfresser seinen ehemaligen Bündniskollegen, als dieser Rosalies Aufmerksamkeit durch Hüpfen und Fingerschnipsen gewinnen wollte.
Auch andere machten seltsame Handzeichen, erst für Rosalie, dann sehr rasch füreinander. Immer mehr Leute im Becken und an dessen rasch von neuen Handgreiflichkeiten und Tritten einsinkenden Rändern verloren Rosalie und Mandelbaum bereits aus den Augen, wandten sich einander oder unerkennbaren Vorgängen in der Luft, am Kiesboden und in ihrem Innern zu.
Rosalie ließ nicht locker: »Sollten wir uns nicht Gedanken über eine Wählreform ... ’tschuldigung: Währungsreform machen? Lassen sich adoptierte Waisen aus Haiti von der Steuer absetzen, oder sind die jetzt auch alle weg? Kann man Reichtum leasen?«
Sie hörte, unterstützt durch immer neue Quatschfragen von Mandelbaum, nicht auf mit dem Geschrei, bis der Zustand der wahnhaften Gemeinschaft im Kies gerade so schlimm wie zum Zeitpunkt ihres Eintreffens war, wenn nicht schlimmer.
Als sie dies erreicht hatte, sagte sie heiser: »Sollten wir jetzt nicht abhauen und den coolen alten Mann wiederfinden?«
»Aber hurtig«, bestätigte Mandelbaum.
19.
Hausbesetzung
Hilde Pinguin saß auf einer Bettkante. Die gehörte zu einem Bett, das in einem der zwei Schlafzimmer der verlassenen Villa stand, in die sie in der Nacht zuvor eingebrochen war, resolut die Proteste von Professor Kilian mißachtend und im vollen Bewußtsein des Verstoßes gegen die Eigentumsordnung.
Es waren besondere Umstände gewesen, die sie dazu verleitet hatten.
Wie hätte man in einer solchen Welt Ruhe bewahren können?
Alles wurde immer
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