Deutschland macht dicht (German Edition)
sie’s nicht klar sah, die nagende Sehnsucht, einer Welt entfliehen zu können, in der sie nur noch ein deutsches Mädel sein sollte, und wieder an einen Ort zurückzukehren, wo man Leute treffen konnte, die andere als deutsche Geschichten mit sich führten.
Mandelbaum, der von sich sagte, er schlafe niemals und vermisse das auch nicht, hielt bei einer der Kerzen das, was er »Hasenwache« nannte. So konnten sowohl Rosalie wie der älteste Kommunist Deutschlands die ganze Nacht durchschlafen, was ihnen guttat, obwohl sie eigenartigste Träume träumten.
Hätten sie einander diese Träume am nächsten Morgen erzählt und sie verglichen, dann wäre es Mandelbaum vermutlich gelungen, sie auf der Grundlage seines Wissens über die Lage zutreffend zu interpretieren. Damit wäre klargeworden, in welcher der vier Sorten von Situationen, die der Alte erwähnt hatte, man sich tatsächlich befand.
Diese Gelegenheit wurde versäumt. Dafür gab es ein gutes Frühstück.
Drei Häuser weit neben dem Bettengeschäft stand eine Bäckerei. Im leicht zu bedienenden Ofen lagen unaufgebackene Brezeln, um die sich der älteste Kommunist Deutschlands und Rosalie kümmerten, während der Hase, der, obwohl er aus Stoff war, überraschenderweise auch essen konnte und wollte, es mit etwas Joghurt aus dem Bäckereikühlschrank genug sein ließ. Gestärkt brach man auf.
Der Hase sagte: »Wir haben einen langen Weg vor uns.«
»Weg, wohin?« Rosalie hob die Brauen.
»Nicht aus der Stadt hinaus, sondern spiralförmig immer tiefer in sie hinein.«
»Du redest schön geheimnisvoll daher, weißt du das, Hase?«
Mandelbaum nickte. Er wußte das, weil er sowieso fast alles wußte.
In einer Kiesgrube, die sich recht genau da befand, wo eigentlich die Hauptwache hätte sein müssen, erblickten Rosalie, der auf ihrer rechten Schulter sitzende Mandelbaum und der älteste Kommunist Deutschlands zwei Dutzend Wirtschaftswissenschaftler, Börsianer und Unternehmensberater. Die führten sich auf, als ob alles noch viel schlimmer wäre, als es tatsächlich war. Sie rauften sich, nahmen einander in den Schwitzkasten, drehten sich wie Derwische im Kreis und riefen Parolen:
»Management by Offenbarung! Management by Offenbarung!«
»Retail banking!«
»Planung ist unmöglich, das walte das Allokationsproblem!«
»Barwert, Barwert, alles hört auf mein Kommando!«
Zwei Frauen, deren Unterleiber komplett im Schotter versunken oder eingegraben worden waren, bewarfen einander mit Kieseln und stritten sich darüber, wer von ihnen beiden Angebot und wer Nachfrage sein durfte. Ein kleiner dicker Mann mit NYSE-Anstecker in der Zunge konnte zwar nicht reden, versuchte aber, einem anderen mit einer großen Gartenschere an die Haare zu gehen, was ein dritter dem erschrockenen Publikum am Grubenrand mit dem Ausruf zu erklären versuchte: »Er kürzt die Nebenkosten! Die müssen runter! Runter! Müssen runter! Down!«
Zwei weitere Herren, direkt zu Rosalies Füßen, gingen die Frisurenfrage noch radikaler an: Sie fraßen bewußtlosen Kollegen mit kräftigen Bissen buchstäblich die Haare vom Kopf.
»Die haben es nicht in die Armee geschafft, weißt du«, sagte Mandelbaum betrübt.
»Welche Armee?«
»Die Armee der Aktuatoren.«
»Akkuwas?«
»Das sind die Hände und Füße derjenigen Macht, die das Ganze hier hat geschehen lassen. Die Aktuatoren suchen derzeit ein Mädchen, das ...«
»Mich?«
»Nein, du bist es nicht, obwohl ich das zunächst dachte, weil mein Blick auf die ... Muster hinter allem dich als wichtigen Punkt erkannt hatte. Ich bereue trotzdem nicht, daß ich dich vor der Hexe und den Vampirkatzen in Sicherheit gebracht habe, als die neue Topologie noch instabil war ...«
»Danke.«
»... denn du bist zwar nicht die, die alle suchen. Aber du bist sehr nett«, erklärte der Hase.
»Sehr nett bist du selber«, erwiderte Rosalie aufrichtig, während rechts von ihr der älteste Kommunist angewidert zurückwich, weil sich zwei fest ineinander verwrungene Anzugträger, die jederden andern als »Oligopolist!« »Monopolist!« und Schlimmeres beschimpften, bis auf zwei Dezimeter in seine Nähe gekämpft hatten.
Vorsichtig schlug er mit seinem Stock nach ihnen, da ließen sie einander los und starrten ihn an.
»Ich sollte ein paar Arbeiter oder Entlassene holen!« schimpfte der älteste Kommunist des Landes, »die würden schon mit euch fertig! Schämt euch, was ihr hier macht!«
Die beiden Ringer wechselten verdutzte Blicke. Dann sahen sie
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