Deutschland macht dicht (German Edition)
Am besten, dachte er, verschafft man sich einen Überblick von hoch oben.
Er öffnete das Fenster, stieg hinaus und kletterte wie eine Spinne die Fassade des Redaktionsgebäudes der Erhabenen Zeitung hinauf. Daß er hinunterfallen konnte, kümmerte ihn nicht: Die Straße lag, wie das ganze Gebäude, auf einem Meridian des von sich selbst verschluckten Landes, er konnte nicht sterben, sondern würde sich sofort wieder zusammensetzen, wenn er denn fiele. Er fiel nicht, sondern erreichte das Dach. Der Geist Joseph Schumpeters wartete bereits auf ihn. Bei ihm stand Professor Kilian, Hendriks Vater, wieder ganz er selbst. Der Gelehrte räusperte sich, als Holbach das Dach betrat.
»Ach, der Herr Journalist«, sagte Schumpeter mit einem Messerspitzchen Vorwurf in der Stimme. »Sie haben es also auch bemerkt. Die Lage ändert sich. Darf ich vorstellen – ein Kollege von mir. Er erinnert sich nicht, was er gelehrt hat, aber er ist Professor.«
Kilian begrüßte stotternd und stammelnd den Journalisten, dieser begrüßte die beiden Wissenschaftler. Dann sahen sie in Richtung des Turms, in dem das Geld wohnte.
»Man kann den Kern der Angelegenheit beobachten, von hier aus«, stellte Schumpeter melancholisch fest, »aber nicht erreichen.«
»Ja, äh, ich, wenn Sie die mythologische, die die die archäologische Trope gestatten wollen, ich fühle mich, hrrm, schon ganz wie wie wie der von Freud einst so ... so ... wie Moses«, versuchte Hendriks Vater einen schwachen Scherz.
Der Zeitungsmann sagte: »Das ist aber kein gelobtes Land, da drüben.«
»Sondern?« fragte Schumpeter.
»Sondern im Gegenteil«, antwortete Holbach.
32.
Bannmonster
Hilde Pinguin war stets eine anpassungsfähige Frau gewesen. Nicht zuletzt dieses Charakterzugs wegen hatte das Geld sie zur Mutter seiner sterblichen Tochter erwählt und seine ganze Willenskraft und Klugheit eingesetzt, um den Umstand vor der Außenwelt zu verbergen, daß die unverheiratete, aber sehr vermögende Frau ihren Reichtum aus reichlich mysteriösen Quellen bezog. Nach der Plombierung des Landes hatte sie eine Weile gebraucht, zu ihrer alten Flexibilität zurückzufinden.
Als aber dem Kamikäse ihre Entführung aus dem transzendenten Diesseits ins immanente Jenseits geglückt war, kam Hilde Pinguin mit ihren Umständen endlich wieder zurecht.
Zum einen nämlich hatte der Käse nicht nur sein eigenes Racheprojekt mit dieserGrenzüberschreitung ein gutes Stück vorangebracht, sondern auch Hilde Pinguins unmittelbar dringlichstes Problem gelöst: Hunger und Durst waren hier drüben, merkte sie nach wenigen Minuten, einfach verschwunden. Ausgeruht, gestärkt, sogar angriffslustig fühlte sie sich.
Zum andern aber war der weite Weg, den sie seit ihrer Verschleppung aus der Villa, in die sie mit Professor Kilian eingebrochen war, hatte zurücklegen müssen, offenbar wirklich zu Ende, wie ihr der Käse in dem großen, leeren, von mildem Licht erfüllten Gewölbe, in dem sie auf der anderen Seite eintrafen, erregt versicherte: »Wir sind drin! Mittendrin! Wer braucht Karten? Spürt man’s nicht? Wir sind im Turm des Großen Satans! Nun, noch müssen wir nach oben, wo er wohnt. Aber in einem Empfangszwischengeschoß, schmeck’s, Ungläubige, sind wir. Nicht weit von seinem Nistplatz!«
Hilde Pinguin, die schon einmal hier gewesen war, fühlte sich nicht als Einbrecherin, sondern seltsam sicher. Sie wußte zwar nicht, weshalb, denn ihren früheren Besuch hatte sie vergessen. Die Kühle der Halle aber wehte sie freundlich an, friedlich, besänftigend; die Stille atmete etwas Mütterliches.
Weniger still war der Käse: »Die aber versuchen, unsere Zeichen zu entkräften, sie sind es, denen eine Strafe schmerzlicher Pein wird! Ich weiß, was ich wissen muß, ich finde den Weg!« Als wäre das eine Aufforderung ans Gebäude gewesen, sich dem Käse hinzugeben, glitt eine Steinwand beiseite. Vor die beiden Gäste trat ein riesiges, entsetzliches Ungeheuer mit Augen wie Leuchtturmlampen, einem Mund wie ein Scheunentor und Pratzen aus wütender Scheiße.
Es brüllte: »Röööhr! Du hast vielleicht gewußt, wohin du gehst! Aber nicht, was dich dort erwartet! Raahhhh!«
»Iihhh!« kiekste Hilde Pinguin. Der Käse stemmte zwei Fäustchen gegen den löchrigen Leib und rief trotzig: »Ich nicht, aber er, in dessen Namen ich hier bin, kennt alle Geheimnisse! Was willst du den Rechtschaffenen antun? Wer bist du, Brocken?«
»Gröööl! Ruuuug! ICH! BIN! DIE! BESTIE!
Weitere Kostenlose Bücher