Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)
Kind
15
Jahre lang gepflegt und jeden Tag viele Stunden bei ihm verbracht hat.«
Simone Helmholtz sieht das jedoch anders. Sie ist erbost und tief verletzt, weil Tom sich nicht zu seiner Schuld bekennt und seine Anwältin sich über das Leiden ihres Kindes auch noch lustig macht. Noch vor Beginn der Gerichtsverhandlung trennt sie sich von Tom und verbietet ihm den Umgang mit ihrem zweiten Sohn Philipp.
Vor Gericht tritt sie als Nebenklägerin gegen den Mann auf, der ihr Kind schwerstgeschädigt und dann 15 Jahre lang mit ihr zusammen gepflegt hat.
Aus dem Fall Lukas Helmholtz lassen sich drei Erkenntnisse ableiten:
Durch eine
gesetzliche Meldepflicht
für Kinderärzte wäre diese Tragödie nicht zu verhindern gewesen. Eine Meldepflicht nach US -Vorbild oder nach der Urfassung des österreichischen Gesetzes greift ihrer Logik nach erst, wenn die Misshandlung manifest geworden, also eine Straftat verübt worden ist.
Nach einer
rechtsmedizinischen und sozialpsychologischen Schulung
hätte die Ärztin die Alarmzeichen zumindest erkennen können: »Schreikind im Säuglingsalter + gestörte Vater-Kind-Beziehung = höchste Risikostufe für Schütteltrauma«. Doch die geradezu standestypischen Vorurteile der Kinderärztin gegenüber »psychologischem Brimborium« hätten sie wohl auch dann daran gehindert, aktiv zu werden.
Erst durch eine
gesetzliche Reaktionspflicht entsprechend geschulter Kinderärzte
bestünde zumindest eine Chance, Tragödien wie diese im Vorfeld zu verhindern. Eine rechtsmedizinisch fortgebildete und sensibilisierte sowie zur Initiative verpflichtete Dr. Liebert hätte die Warnsignale rechtzeitig erkennen
können
– und via Schreikind-Ambulanz präventive Hilfe anbieten
müssen.
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6 Friede den Toten – nicht den Tätern
Ein altes rechtsmedizinisches Sprichwort besagt: »Wenn auf dem Grab jedes Ermordeten eine Kerze brennen würde, wären Friedhöfe nachts hell erleuchtet.«
Das gilt für deutsche Friedhöfe in besonderem Maß. In den Vereinigten Staaten werden die Leichenschauscheine meistens von rechtsmedizinisch geschulten Leichenbeschauern (sog.
Coroner
) ausgestellt. In Deutschland dagegen übernehmen in der Regel Hausärzte oder behandelnde Fachärzte diese Aufgabe – etwa der Kinder- und Jugendarzt. Die niedergelassenen Mediziner stehen hier wiederum vor dem Dilemma, das wir bereits in Kapitel 5 beschrieben haben: Sie sind befangen. Um die Familie des Toten nicht als Patienten und damit auch als zahlende Kunden zu verlieren, schauen sie im Zweifelsfall lieber nicht so genau hin. Außerdem verfügen sie nur in Ausnahmefällen über die nötigen rechtsmedizinischen Kenntnisse, um subtile Hinweise auf einen nicht natürlichen Tod zu erkennen.
Von einem
nicht natürlichen Tod
spricht man, wenn eine Person von eigener Hand oder durch Fremdeinwirkung verstirbt, wobei diese auch längere Zeit zurückliegen kann. Todesfälle nach langjähriger Bettlägerigkeit infolge eines Unfalls zählen gleichfalls zu den nicht natürlichen Todesarten.
Kreuzt der Arzt, der den Tod festgestellt hat, auf dem Leichenschauschein als Todesart »nicht natürlich« oder »ungeklärt« an, dann muss er die Polizei informieren. Diese erstellt eine Akte, und anhand dieser Informationen ordnet die Staatsanwaltschaft gegebenenfalls eine Obduktion an, um die genaue Todesursache zu klären. Doch die Haus- und Kinderärzte, die bei kindlichen Todesfällen den Leichenschauschein ausstellen, bescheinigen fast immer eine natürliche Todesart – häufig zu Unrecht, wie nicht nur wir Rechtsmediziner argwöhnen.
Laut einer aktuellen Mitteilung der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie ( DGKCH ) sterben
»Kleinkinder im Alter von ein bis vier Jahren in Deutschland am häufigsten durch Verletzungen aufgrund von Unfällen«.
Indessen weist Guido Fitze, Vorstandsmitglied der Fachgesellschaft DGKCH , darauf hin, dass
»gerade bei sehr kleinen Kindern ebenso eine Misshandlung hinter den Verletzungen stecken«
könne – und damit auch hinter dem scheinbar unfallbedingten Tod. Fitze nimmt an,
»dass etwa ein Drittel aller Sterbefälle im Säuglingsalter mit äußerer Gewalteinwirkung zusammenhängen«
(ärzteblatt.de, 7.6.2 013 ).
Unter den gegenwärtigen Umständen bleiben diese versteckten Misshandlungen mit Todesfolge viel zu häufig unerkannt. Die Ärzte, die den Tod feststellen, sind meist nicht imstande und oftmals auch nicht willens, unbequeme Wahrheiten auszusprechen oder zumindest die Klärung
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