Deutschland misshandelt seine Kinder (German Edition)
habe sie die Tür geschlossen und dann erst das Transistorradio eingeschaltet.
So bekam sie allerdings auch nicht mit, was im Kinderzimmer nebenan passierte. Wie sich das Baby im Schlaf umdrehte und in die Ritze zwischen Matratze und Wand rutschte. Dorthin, wo die Heizungsrohre knapp über dem Boden auf Putz verlaufen.
»Ich hatte die Heizung im Kinderzimmer gar nicht an! Nur im Badezimmer, ich wollte doch Maddy baden, und da sollte es doch warm sein im Bad!«, ruft Melinda außer sich. »Nach ein paar Minuten bin ich zu Maddy zurück und habe sie erst gar nicht gesehen. Es hat nur so komisch gerochen. Und dann habe ich meine Maddy entdeckt. In der Spalte neben der Matratze, mit dem Kopf am Rohr – und das war glühend heiß!«
Kriminalkommissarin Emma Drillich hat ihre Zweifel an dieser Geschichte. Auch die Familienhelferin Lara Maske kann nicht glauben, dass Maddy sich auf diese Weise ihre lebensgefährlichen Verletzungen zugezogen hat.
»Wenn die Heizkörper nicht angedreht sind«, sagt sie zu ihrer Kollegin Ines Müller, »müssen die Rohre doch auch kalt gewesen sein.«
Mittlerweile haben wir Maddys Verbrennungen begutachtet. »Der Kopf des Babys muss wenigstens mehrere Sekunden lang mit einem glühend heißen Gegenstand in Kontakt gewesen sein«, erklären wir. »Aber allein aufgrund des Verletzungsbildes lässt sich nicht klären, was genau mit Maddy passiert ist.«
Kommissarin Emma Drillich bittet uns daraufhin, mit ihr zusammen den Geschehensort zu begehen.
Die Drei-Zimmer-Wohnung der Familie Schmittner liegt im Erdgeschoss eines sanierungsbedürftigen Altbaus. Selbst am hellen Tag ist es im Kinderzimmer so düster, dass wir das Licht einschalten. Wir finden alles so vor wie von Melinda Schmittner geschildert: Die Matratze liegt neben der Wand, vor der das Heizungsrohr verläuft. Die Wanne im Badezimmer ist mit Wasser gefüllt, das mittlerweile kalt geworden ist. Aus dem Transistorradio plärrt Schlagermusik.
»Das Heizungsrohr neben der Matratze ist kalt«, meldet einer der Ermittler, die die Wohnung nach Hinweisen durchsuchen. »Die Heizkörper sind alle abgedreht. So wie die Mutter es geschildert hat, kann es also nicht passiert sein.«
Doch wir entdecken auch keine Hinweise auf einen möglichen anderen Verlauf. Der Herd in der Küche ist ausgeschaltet. Töpfe und Pfannen stehen ordentlich abgespült im Schrank. Auf den Herdplatten finden wir keinerlei Rückstände von verbranntem Gewebe.
»Dass die Mutter ihrem Kind absichtlich die Verbrennung zugefügt hat, schließe ich aus«, sagt Kriminalkommissarin Drillich. »Sie hat sich nach Aussage der Helferinnen immer liebevoll um das Baby gekümmert. Außerdem könnte sie sich eine so komplizierte Geschichte gar nicht ausdenken. Und noch weniger könnte sie alle Spuren verwischen, falls hier tatsächlich etwas anderes passiert wäre.«
Trotzdem scheint Melinda Schmittners Geschichte mit den vorgefundenen Gegebenheiten einfach nicht zusammenzupassen. Doch dann kommt uns eine Idee.
»Drehen Sie doch mal die Heizung im Badezimmer an«, bitten wir einen der Ermittler. »Vielleicht wird durch das Rohr neben der Matratze gar nicht die Heizung im Kinderzimmer, sondern die im Badezimmer gespeist.«
Genauso verhält es sich tatsächlich. Die Heizung im Badezimmer erwärmt sich, und das Rohr im Kinderzimmer wird nach kürzester Zeit glühend heiß.
Wir trauen unseren Augen nicht, als wir die Temperatur des Kupferrohrs neben der Matratze messen. Sie beträgt rund 90 Grad Celsius!
»Der Unfall ist wirklich so passiert, wie Melinda Schmittner ausgesagt hat«, fassen wir schließlich zusammen. »Das Baby ist in die Spalte gerutscht, und schon nach wenigen Sekunden muss seine Kopfschwarte verbrannt gewesen sein. Es muss wie am Spieß geschrien haben, aber die Mutter hat wegen der Radiomusik nichts gehört. So hat der Säugling mehrere Minuten in der Ritze gelegen, mit dem Kopf auf dem glühend heißen Heizungsrohr.«
Durch unsere Untersuchung wird die Mutter also von dem Verdacht entlastet, ihr Baby misshandelt zu haben. Sie hat sich im Gegenteil die größte Mühe gegeben, Maddy so zu betreuen, wie die Familienhelferinnen es ihr beigebracht haben – jedoch mit verheerendem Ergebnis. Hätten die Helfer die Familienwohnung vorher in Augenschein genommen, anstatt die Eltern lediglich theoretisch zu schulen, dann wäre dieser Unfall höchstwahrscheinlich nicht passiert.
Ob Eltern aus Nachlässigkeit, Überforderung oder Gleichgültigkeit ihre
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