Deutschland umsonst
Mann, der da draußen mit Hund neben dem Bahndamm entlangläuft. Wenn mich nicht alles täuscht, habe ich auf seinem Rücken einen Rucksack und in seiner Hand einen großen Wanderstab gesehen. Wo der wohl hin will, denke ich und beneide ihn um die Zeit, die ich mir nicht zu nehmen wage...
Der Zug ist an mir vorbei, seine roten Schlußlichter verengen sich zu einem winzigen Punkt. Heute abend sind die Reisenden vielleicht schon in München. Wieviele Wochen oder Monate werde ich brauchen bis dorthin? Wird es Sommer werden oder schon Herbst?
In Lachendorf gerate ich in einen Umzug des Schützenvereins. Das Kinderprinzenpaar wird mit großem Gefolge zu Kuchen und Limonade geführt. Die Feuerwehrkapelle spielt einen Marsch. Hinter dem schwankenden Fahnenträger mit grün-weißer Schärpe und glasigen Augen ziehen wir ins Festzelt, wo die Väter der Kinder am Biertisch gerade das »Panzerlied« grölen. Ein Feuerwehrhauptmann a. D. haut mir kumpelhaft auf die Schulter und lädt mich zu einem Pils ein. »Komm, Landser, trink einen mit .« Wieder muß ich mir Kriegsgeschichten anhören, diesmal von den »langen Märschen nach Moskau und zurück«. Auch von Bundespräsident Carstens ist die Rede, der wie ich durch diese Gegend gewandert sein soll, allerdings mit einem Troß von Fernsehleuten und Sicherheitsbeamten, doch ohne Hund. Beim Bauern Tewes hat er Rast gemacht und »ganz bescheiden« einen Tee getrunken. Daß »so ein hoher Herr durch unsere Gegend kommt«, und dann auch noch zu Fuß, scheint die alten Kämpfer nachhaltig beeindruckt zu haben.
Als der Bundespräsident bei seiner Antrittsrede im Bundestag verkündete, er wolle durch Deutschland wandern, da war ich sauer. Ich hatte absolut keine Lust, in seine Fußstapfen zu treten, ich wollte auf gar keinen Fall mit einem Trend, mit einer Wanderwelle identifiziert werden, und nun drohte dieser Mensch, mir meine Tour zu vermasseln. Irgendwann machte ich mich dann frei von diesem Gedanken. Laß den seinen Weg gehen, sagte ich mir, ich geh’ halt meinen, so klein ist die Bundesrepublik ja nicht, daß wir uns in die Quere kommen müssen. Aber wenn mir der Herr Bundespräsident dann doch auf die Füße tritt, so wie hier am Biertisch, wage ich nicht einmal, mich zu verteidigen, denn das könnte ja nach der faulen Ausrede eines Nachahmers klingen.
Mit dem dritten Bier verziehe ich mich in den Nebenraum, wo die Dorfkinder mehr beklommen als fröhlich auf ihren Stühlen herumrutschen, den Kuchen vor sich, die strengen Mütter im Rücken. Das Prinzenpaar am Kopfende der langen Festtafel ist so ergriffen von der eigenen Würde, daß es keinen Bissen von der Extratorte herunterbekommt.
Draußen ist Rummel mit einem Karussell, einer Schießbude und viel Zuckerwatte. »Bitte rechts fahren«, kommandiert die Kassiererin des Autoscooters über den Lautsprecher aus ihrem Campingwagen, aber die viel zu temperamentvollen Gastarbeiterjungen halten sich an keine Verkehrsregeln und rammen unverdrossen die Wagen der blonden Dorfmädchen. Im Abfallkorb neben der Würstchenbude findet Feldmann eine halbe Bockwurst. Ich will weiter, aber da kommen drei schöne, stolze Frauen, ich glaube, es sind Zigeunerinnen. Jede führt ein Kind an der Hand. In ihren knöchellangen, schwarzgepunkteten Kleidern, die krausen Haare bis an die Hüften, sehen sie aus wie Drillinge. Ernst und entschlossen gehen sie auf das Karussell zu. Sie haben sich wohl selber viel Mut zusprechen müssen, bevor sie es wagten, hier zu erscheinen. Unnahbar und steif stehen sie am Karussell im Gedränge. Ihre Kinder drehen sich stumm auf den hölzernen Pferden. Von allen Seiten werden die Fremdlinge mit verstohlenem Mißtrauen beobachtet, keiner wagt einen offenen Blick, und mir geht es nicht anders. Bevor die Leute mit dem Holzsammeln für den Scheiterhaufen beginnen, mache ich mich davon.
Hinter Wienhausen bauen sich von Westen her die ersten Wolken auf, bis Ütze hat sich der Himmel langsam zugezogen, in Dollbergen fallen die ersten Tropfen auf meiner Reise. Vor diesem Augenblick graut mir seit Hamburg. Im Trockenen ist leicht vorankommen, wie aber ergeht es mir, wenn Nässe die Wege, die Schuhe und bald dann auch die Moral aufweicht? So konkret habe ich mir diese Frage bisher nicht gestellt, glaubte ich doch, mich auf Sonne, Mond und Sterne absolut verlassen zu können. Drum steckt mein Regencape auch ganz tief unten im Rucksack. Nun muß es wohl oder übel heraus, und ich muß mich erstmals um ein Dach sorgen für die
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