Deutschland umsonst
alternativem Erholungsheim für genesende Drogenabhängige, ökologisch engagierte Jugendgruppen, Schulklassen und stadtmüde Freaks aus norddeutschen Großstädten, die mal ein paar Tage frische Luft brauchen. Ein Dutzend Ferienwohnungen, wie ich eine bezogen habe, steht ihnen zur Verfügung; dort können sie tun und lassen, was sie wollen, vorausgesetzt, das Mobiliar bleibt heil.
Neben mir wohnt ein junges Paar mit zwei kleinen Mädchen. Etwas Trauriges geht von diesen Leuten aus, irgendein Schatten scheint über ihnen zu liegen. Trotz ihrer Jugend wirken sie verhärmt, fast leblos, ich spüre eine Bitterkeit, die mich besonders bei den Kindern befremdet. Aber auch ich bin diesen Menschen fremd. Obwohl wir unter einem Dach wohnen, gehen wir uns zunächst fast scheu aus dem Weg. Außer einem flüchtigen Gruß passiert nichts, und doch verbirgt sich hinter unserer Distanz ein starkes Interesse füreinander. Erst zwei Tage nach meiner Ankunft — ich stehe mit dem Rechen wieder zwischen meinen Laubbergen — kommt die junge Frau auf mich zu und fragt mich, »ob ich auch drücke«. Erschrocken schüttele ich den Kopf, mit Heroin hab’ ich nichts zu tun, und da schwankt ihr Blick zwischen Enttäuschung und Erleichterung. »Ich auch nicht«, sagt sie mit unsicherer Stimme und fügt nach einer Pause hinzu: »Seit über zehn Wochen .« Eine zweimonatige Entziehungskur liegt gerade hinter ihr, in einer »Klapsmühle«, sechs Personen in einem Zimmer, darunter Epileptiker, Leute mit Hirntumoren und senile Greise. »Die Nächte waren das schlimmste«, erzählt das Mädchen, und hätte sie ihr Freund da nicht herausgeholt, sie wäre wohl selber verrückt geworden. Entgiftet, immerhin, ist sie jetzt, zum erstenmal seit sechs Jahren, und die Landluft tut ihr gut. In Mannheim hat sie vor ihrer Einweisung ein Gramm Heroin pro Tag gebraucht, und die zweihundert Mark dafür mußte sie sich irgendwie beschaffen. Ihren Job als Sekretärin in einem Großraumbüro hatte sie schon lange aufgegeben, so blieb, wollte sie nicht klauen, nur der Strich, »was hart ist mit zwei kleinen Kindern«. Jahrelang lebte sie ein Doppelleben. »Tagsüber war ich Hausfrau und Mutter, wurde sogar in den Beirat des Kindergartens gewählt«, und nachts hieß sie Nicole und schaffte an, »vor allem die Gastarbeiter standen auf mich«. In einer Szenenkneipe lernte sie Jürgen kennen, ihren jetzigen Freund, und er half ihr beim Versuch, von der Spritze wegzukommen. »Clean« will sie jetzt bleiben, »wenigstens versuchen muß ich’s, schon wegen der Kinder«, eines ist fünf, das andere neun, vom Vater spricht sie nicht.
Ihr Freund versteht sie. Er selber war mal Fixer, und gemeinsam wollen sie sich nun stark machen gegen die Gefahr des Rückfalls, den Sog der Szene, sie wollen wieder arbeiten gehen, sich sogar einen »Trauschein holen«, als Einstiegsdroge quasi fürs bürgerliche Leben. Aber die Angst vor der Heimreise in wenigen Tagen ist groß. Die Frau fürchtet den Besuch von »alten Freunden, armen Schweinen wie ich eins war«, die ihr den ersten Schuß als Geschenk anbieten werden. Ob sie annehmen wird, frage ich nicht. Ich frage überhaupt nichts, sondern harke meine Blätter, während sie dasitzt auf einem Baumstumpf und es aus ihr herausplätschert, als rede sie vom Wetter. Wer ich bin, was ich tue, das will sie gar nicht wissen. Die Information, daß ich »nicht drücke«, genügt ihr, damit bin ich ein »Normaler«, einer vom anderen Lager, in das sie ja nun auch will, wenn auch mehr aus Verzweiflung als aus Überzeugung. »Stricken kann ich schon«, sagt sie mir stolz, »es beruhigt .«
Ich stelle sie mir vor, die beiden, in ihrer neuen Heimat im Frankfurter Westend , 14. Etage; nach acht Stunden Arbeitskampf hinter der Schreibmaschine und an der Werkbank setzen sie sich erschöpft und entleert vor den Fernseher, sie häkelt, er trinkt sein Bierchen, nach den »Tagesthemen« gehen sie ins Bett, Licht aus, vielleicht noch ein wenig Liebe, vielleicht auch nicht. Aber die Entfremdung wächst von Woche zu Woche, er kommt immer später nach Hause, meist ist er schon stark angetrunken, es gibt öfter Krach, die Kinder werden von scharfen Wortwechseln aus dem Schlaf gerissen, sie fragen: »Warum streitet ihr euch dauernd«, eines Tages wird einer der beiden ausziehen, die Kinder werden »gerecht geteilt«, die Kleine zu ihr, die Große zu ihm, und wenn alles weitere unerwartet normal verläuft, und das heißt, wenn ein Rückfall in die Drogenszene
Weitere Kostenlose Bücher