Deutschland umsonst
nichts.
Viele von seinem Stamm haben das Reisen schon aufgeben müssen, erzählt mir mein Nachbar, leben in Notunterkünften und sind auf die Sozialhilfe angewiesen. »Seßhaftmachen nenn das deine Leut , aber uns bringt’s um«, sagt er und deutet auf eine Tätowierung auf seinem Unterarm, eine vielstellige Zahl, die mit einem großen »Z« beginnt. »Vor vierzig Jahren haben uns die Nazis in KZs gesperrt, und heut stecken ihre Kinder uns Überlebende wieder in Baracken .«
Man reicht mir eine Gitarre, aber ich muß leider passen. Könnte ich wie diese Leute meinem Lebensgefühl Ausdruck verleihen, ich brauchte mich keinen Schritt mehr weiter zu quälen, würde keine Zeile mehr in mein Tagebuch schreiben und schon gar kein Buch. Aber mehr als drei Pfadfinderakkorde habe ich nicht im Griff, und so sitze ich sprachlos da, höre die Lieder, die ich nicht verstehen kann, fühle die Geborgenheit in dieser Männerrunde und wäre gern als Sinti auf die Welt gekommen.
Hauptbahnhof Hildesheim. Auf dem Plan hinter Glas suche ich mir den kürzesten Weg aus dem Stadtgewühl. Ich muß mich westlich halten, wenn ich zur Weser will. Um ganz sicher zu gehen, schreibe ich die Straßennamen auf den Rand eines Zeitungsfetzens: Kaiserstraße, Kardinal-Bertram-Straße , Pfaffenstieg, Dammtor, Landesrechnungshof und dann die Steinbergstraße entlang in den Hildesheimer Wald.
Nach drei bis vier Kilometern beschwerlichem Asphalt endlich die erste Wiese am Rand der stark befahrenen Bundesstraße. Ich binde Feldmann die Schnur vom Hals, doch anstatt auf die Wiese springt er freudig auf die Fahrbahn. Noch bevor ich reagieren kann, quietschen Reifen, dann ein dumpfes Krachen, Glas splittert, und der hellbraune Hundekörper schleudert in den Chausseegraben. Ich stehe da wie erstarrt, umklammere meinen Stock, möchte fliehen, aber die Füße scheinen am Boden festgewachsen wie in einem Alptraum.
Erst das Schlagen einer Wagentür bringt mich wieder zu mir: »Um Himmels willen«, schreit ein Mann mit schneeweißem Gesicht, »mein neuer Scirocco !« Feldmann liegt wie tot im Gras und blutet aus Kopf und Hals. Eine große Wunde klafft unter seinem linken Ohr. Erst als ich ihn im Arm halte, spüre ich an seinem flachen Atem, daß er noch Leben in sich hat. »Schnell zu einem Tierarzt«, rufe ich dem blassen Autofahrer zu, aber der faßt sich nur an die Stirn, redet etwas von »weißen Lammfellsitzen« und rennt davon. Die Blutungen meines Hundes werden stärker. Mit beiden Händen versuche ich, die tiefe Halswunde zuzuhalten, aber das hilft wenig. Nase und Pfoten zittern, die halbgeschlossenen Augen zeigen nur ihr Weiß. »Feldmann«, flehe ich, »du darfst mir nicht einfach wegsterben .« Aber alles Betteln und Jammern ist jetzt umsonst, mich hat die Wirklichkeit eingeholt, jede Distanz zum Selbstexperiment, zum Doppelgänger, zum schreibenden Wandergesellen, zum wandernden Schreiber ist aufgehoben. Ich bin ich, es geht um Leben und Tod.
Der Scirocco-Fahrer kommt zurück. Die Hand immer noch an der Stirn, besieht er sich seinen Wagen. »Hören Sie«, sagt er atemlos, um mir dann mitzuteilen, daß er das Fahrzeug erst vorige Woche aus Wolfsburg geholt hat und daß der Schaden — neue Kühlerhaube, neuer Grill und neue Halogenscheinwerfer — gut und gerne seine 2000 Mark kosten wird. »Wie soll ich jetzt bloß an das Geld kommen«, sagt er und mustert mich abschätzig, »einem nackten Mann kann man ja nicht in die Tasche greifen .« Verblüfft schaue ich aus dem Straßengraben zu ihm auf. Woher weiß er nur, daß ich kein Geld habe, wie kann er sich so sicher sein? Er hält es nicht mal für nötig, mich zu fragen, wer ich bin, woher ich komme und was mich hier im Regen auf die Straße treibt. Mir soll es recht sein.
Auch für die zwei Polizeibeamten, die nach ein paar Minuten am Unfallort eintreffen, gibt es keinen Zweifel über meine Identität. Sie sind geradezu überrascht, daß ich mich ausweisen kann und angeblich auch noch einen festen Wohnsitz habe. Ich bleibe neben Feldmann im Straßengraben sitzen, während der eine Beamte sich im VW-Bus hinter die Schreibmaschine klemmt, um von dort aus die Vernehmung durchzuführen. »Agnesstraße, sind Sie da ansässig ?« fragt er. »Zur Zeit nicht«, antworte ich ausweichend. »Und einen geregelten Beruf haben Sie auch keinen ?« »Keinen geregelten, nein .« »Was machen Sie denn ?« »Ich bin freier Schriftsteller .« Der Polizist grinst spöttisch. »Und der Hund, gehört der Ihnen ?«
Weitere Kostenlose Bücher