Deutschland umsonst
Thor Obernoh im Jahr 1752 einen schönen Spruch hat hineinschnitzen lassen: »Ach, bleib bei uns, Herr Jesu Christ / weil es nun Abend worden ist / dein göttlich Wort und helle Licht / lasz bei uns auslöschen nicht / dasz wir dein Wort und Sakrament / reinhalten bis ans...« — und da hatte sich der Zimmermann wohl verrechnet, der Balken ist zu Ende, und das Wort »End« paßt nicht mehr hin.
In einigen Fenstern hängen getrocknete Blumensträuße, Jeans flattern an der Wäscheleine, auf der Außentreppe, die zum Eingang führt, liegt ein Steckenpferd. Neugierig folge ich der Musik, steige über die alte Steintreppe hinauf zu der halboffenen Tür und betrete ein chaotisches Museum. Ritterrüstungen, Säbel, steinerne Kanonenkugeln, leuchtende Naturkristalle und Fächer aus Fasanen- und Pfauenfedern stehen und liegen im geräumigen Flur herum, als sei dies die Garderobe eines Opernhauses, in dem heute abend der Lohengrin aufgeführt werden soll. Doch ich höre Rock. Ohne anzuklopfen, öffne ich eine Tür. An einem großen Holztisch sitzt junges Volk in blauen Landarbeiterhemden und selbstgestrickten Wollwesten um einen dampfenden Topf Pellkartoffeln. Ein Säugling bedient sich an der prallen Brust seiner Mutter. Warmes Dämmerlicht fällt durch die dicken Butzenscheiben, und wären da nicht der Eisschrank und die laute Musik, die Szene könnte aus längst vergangener Zeit stammen. Jemand stellt den Plattenspieler leise. »Wer kommt denn da ?« fragt eine Kinderstimme in die eingetretene Stille. Ich nenne meinen Vornamen. »Setz dich erst mal, Michael«, sagt einer ganz selbstverständlich, »ich bin der Georg .« Er stellt mir die Tischrunde vor. Da sind Willi, Christian, Paule, Renate, Peter und der kleine Hans, alles muntere, offene Gesichter.
Die Pellkartoffeln und der Zwiebelquark gehen mir nur so runter. Seit Hamburg die erste warme Mahlzeit. Feldmanns Augen schmachten unter dem Tisch hervor. »Der kann nachher was kriegen«, sagt Georg, »wir haben selber Hunde .« Zum Nachtisch gibt’s eingemachtes Obst und dann auch noch Kaffee. Fettlebe ! Satt und zufrieden stecke ich mir eine Pfeife an. Die Seßhaftigkeit hat auch ihre angenehmen Seiten. Keine zehn Pferde bringen mich heute noch weiter, denke ich und strecke die Beine lang unter den Tisch. Bevor ich mich zu einer entsprechenden Frage aufraffen kann, sagt Willi mit Engelszunge: »Kannst bei uns ein paar Tage bleiben, wennde uns hilfst, Platz ist genug da .« Nichts täte ich lieber, meine Füße können eine Pause gut vertragen, und Feldmanns Pfoten wohl auch. Was immer Willi mit »uns helfen« gemeint hat, nach den mageren Tagen, die hinter mir liegen, bin ich gern bereit, für drei Mahlzeiten am Tag von morgens bis abends zu schuften.
Nachdem mein Hund eine große Portion »Pansen mit frischer Leber« verschlungen hat, zeigt mir Georg mein Quartier. Es ist nicht etwa die Scheune, auch nicht das alte Sofa auf dem Flur zwischen den Antiquitäten — es ist eine komfortable Wohnung im Gästehaus, mit Küche, Bad, gemütlicher Wohnstube und einem Schlafzimmer, in dem sich ein richtiges Bett befindet, ein Bett von französischen Dimensionen, will mir scheinen, so unvorstellbar weich, so breit, und zu allem auch noch frisch bezogen.
Drei Tage lang harke ich das Laub des vergangenen Herbstes zusammen. Daß es jetzt, mitten im Frühling, immer noch die Blumenbeete und den Rasen rund um die Hofgebäude bedeckt, läßt auf eine zwanglose Betriebsführung schließen. Kein Wunder, denn die jungen Leute hier sind keine Bauern, sondern Musiker, die mit ihrer Rockband »Feinbein« den Jugendlichen der Dörfer rundum an jedem Wochenende auf den Tanzdielen kräftig einheizen. Willi, ein ehemaliger Student der Kunstgeschichte aus Hamburg, spielt die Gitarre und singt dazu eigene Texte; Paul, nebenbei Kunstmaler, begleitet ihn auf der Hammondorgel; Christian ist Schlagzeuger und Georg der Bassist. Ihm, dem ehemaligen Antiquitätenhändler, gehört nicht nur das altertümliche Gerümpel im Flur, sondern der ganze Bauernhof, auf dem jedoch heute die Musik Vorrang hat vor allem anderen. Ihr wurde im Laufe der Jahre fast alles geopfert, was mit Landwirtschaft zu tun hat. Die Kühe, die Schafe, die Bienen sind abgeschafft, die Felder verpachtet, und in die eigenen Wälder gehen die Männer nur dann zum Ausholzen, »wenn wir Bock darauf haben«, also sehr selten. Das wenige Geld, das die » Oberoher « zum Leben brauchen, verdienen sie sich mit ihren Konzerten und einer Art
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