Deutschland umsonst
Mertens »einmal die Eins« in die Küche. Das Menü eins entspricht genau den Beschreibungen von Kumpel Reinhold: zwei Scheiben Schwarzbrot, magerer Schichtkäse, ein Becher Saft und zum Nachtisch Joghurt »nature«. Ich mache die Bad-Driburg-Reduktionskur , aber mir schmeckt’s .
Westlich von Bad Driburg — das ist mir neu — liegt das Eggegebirge, der südliche Ausläufer des Teutoburger Waldes. Aber statt Hermann der Cheruskerfürst begegnet mir der Harley-Davidson-Club aus Herne, dessen Präsident seine Motorradkarawane mit majestätisch erhobener Hand zum Halten bringt, nur um mir mitten im Maschinengedröhne einen Kaffee aus der Thermosflasche seines Sozius zu spendieren. »Astrein«, sagt er, boxt mir anerkennend mit seinem schweren Lederhandschuh gegen die Brust und gibt wieder Gas. Eigentlich komisch, denke ich beim Weitergehen, daß ich diesen PS-Protz mit meinen Füßen beeindruckt habe. Ausgerechnet er, der sich wahrscheinlich mit seiner Harley so ungebrochen identifiziert wie einst mein Großvater mit seinem ersten Deutz-Traktor, zieht seinen Helm vor mir, der ich stolz bin auf meine fünf autolosen Jahre, stolz auf die vielen Schritte, die ich seit Hamburg nun schon aus eigener Kraft getan habe, ich pfeife auf Maschinen, vom PKW bis zum AKW. Und doch, bin ich ehrlich, fand ich das Fahrzeug des Präsidenten auch »astrein«, es gibt ihm sicherlich eine ähnliche Illusion von Ungebundenheit und Abenteuer wie mir meine Füße.
Auf dem Kamm des Höhenzugs steht ein Schild: »Wasserscheide von Weser und Rhein«. Das macht mir Mut, denn theoretisch brauchte ich jetzt nur noch die Gesetze der Schwerkraft auszunutzen und wäre ohne viel eigenes Zutun bald an der Ruhr, die schließlich in den Rhein mündet. Der Regentropfen, fällt er auch nur einen Millimeter westlich der Scheidelinie, tut nichts anderes: Er läßt sich weiterfallen, rinnt auf dem Asphalt die Straße hinab, kommt irgendwann von der Fahrbahn ab, wird vielleicht von einer Harley-Davidson zur Seite gespritzt, sickert in den Waldboden, vereinigt sich mit dem Grundwasser, sprudelt bald kristallklar aus einer Quelle wieder ans Sonnenlicht, läßt sich munter zu Tal tragen, ein Kuhfladen, der neben ihm in den noch schmalen Bach fällt, stört ihn wenig, aber schon im ersten Dorf trübt die Abwasserzufuhr einer Gerberei seine gute Laune, unter dem Chemiewerk der Stadt geht dem armen Tropf die Luft ganz aus, bewußtlos erreicht er ein Klärwerk, wird dort kräftig durchgewirbelt, setzt einigermaßen wiederhergestellt seine Reise fort, um sich ein paar Kilometer weiter eine Bleivergiftung zuzuziehen — und so geht es bergab mit dem Regentropfen, bis er schließlich als x-mal getötete Leiche über den Totenträger Rhein in das Leichenschauhaus Nordsee überführt wird.
In der Fußgängerpassage von Paderborn, direkt neben dem Haupteingang vom Kaufhof, sitzt ein Mann mit einem Schild um den Hals, wie Kinder es tragen, wenn sie ohne Eltern vom Roten Kreuz zur Sommerfrische verschickt werden. »Armer Hund ohne Hütte bittet um eine kleine Spende«, steht auf der Pappe, von einer ungelenken, zittrigen Hand daraufgekritzelt. Zum Glück ist es nicht Gustav die Ratte, der Penner aus dem Erzgebirge, den ich Vorjahren nicht weit von hier unter dem Portal des Benediktinerklosters beim »Schmalmachen« traf, denn Gustav hätte mir den Wandergesellen kaum abgenommen. »Na, du Rotzjunge«, wären seine Worte gewesen, »dir geht’s wohl zu gut — hier auf Hallodri mimen! Nun rück den Heiermann schon raus für meine Bombe, dann darfste auch wieder ein Foto machen von mir«, und ich hätte mich furchtbar geschämt.
Ungeniert schnuppert Feldmann mit wedelndem Schwanz am Mantel des armen Hundes herum, und da die beiden sich ganz offensichtlich gut riechen können, fühle ich mich ermutigt, die Zone des Schweigens zu durchbrechen, die sich zwischen dem Bettler und den bogenschlagenden Passanten gebildet hat. »Kennst du einen Gustav«, frage ich und gehe in die Hocke, »genannt die Ratte, der hier früher öfter Sitzungen abgehalten hat ?« Zwei wäßrigblaue Augen blicken durch mich hindurch. »Ich kenn viele Ratten, alle Menschen sind Ratten, aber Gustav, nee, den kenn ich nicht .« Der Mann krault Feldmann liebevoll hinter den Ohren. »Haste was zu rauchen ?« fragt er mich nach einer Weile. Ich gebe ihm meinen Tabaksbeutel, und er dreht sich eine. »Feuer?« Ich gebe ihm Feuer. Nach zwei tiefen Zügen dehnen sich seine rissigen Lippen zu einem Lächeln.
Weitere Kostenlose Bücher