Deutschland umsonst
»Mach dir mal das Laub aus deiner Wolle, siehst ja aus wie n Penner .« Etwas verunsichert kämme ich mir mit den Fingern durchs Haar und beseitige die Spuren der Nacht im Freien. » Warste echt schon mal hier ?« prüft mich der Obdachlose und hält mich fest im Blick. »Zu Fuß noch nie«, gebe ich ehrlich zu. » Warste schon beim Sozi?« »Nein, beim Sozialamt war ich noch nicht, bin ja grade erst angekommen .« »Zu spät, hat mittwochs nachmittags geschlossen, aber bei der Diakonie kannste noch Schwein haben, wenne dich beeilst, is gleich um die Ecke .«
Ich habe Schwein, wenn auch erst nach langem Warten. Diakon Brake stellt mir eine »Durchreisebeihilfe« in Form eines »Lebensmittelgutscheins« aus, der mit acht Mark (»in Worten: acht, Spirituosen- und Tabakwaren ausgenommen«) doppelt so hoch ist wie sonst üblich. Herr Brake sieht ein, daß mein Hund auch leben muß. Warum ich kein Geld habe, warum ich unterwegs bin, das interessiert den Diakon wenig. Er fragt nur nach meinem Ausweis, notiert meinen Namen auf einer langen Liste, ich unterschreibe, und damit ist die Angelegenheit für ihn erledigt, »der Nächste, bitte«, draußen auf dem Flur warten noch drei Gestalten, um fünf ist Dienstschluß — Bürokratie der Nächstenliebe. Einzulösen ist der Schein im Laden gleich auf der anderen Straßenseite. Geräuschlos öffne ich die Tür, kein Ding-dong , kein Schrillen, keinerlei alarmierende Laute. Der Laden ist leer. Ich gebe mir Mühe, mich als ganz normaler Kunde zu benehmen, greife mir einen Einkaufskorb, flaniere zwischen den übervollen Regalen. Aber der Ladenbesitzer ist gleich zur Stelle, er scheint seine einschlägige Kundschaft von gegenüber zu kennen. »Was darfs denn Schönes sein ?« fragt er scheinheilig harmlos. Ich antworte vage, daß ich mich erst mal ein wenig umschauen muß. Das Angebot ist überwältigend, die Preise auch: Camembert 3,15 DM, Mettwurst mit ganzen Pfefferkörnern 2,77 DM, Butter, das halbe Pfund 2,48 DM, Quark 1,59 DM, Vollkornbrot und Hundefutter (»Mit saftigen Rinderstücken«) je 3,33 DM. Grob Überschläge ich die Ware im Korb. Das macht zusammen weit über 10 DM, also viel zuviel. Die Butter tausche ich gegen Pflanzenmargarine ein (1,38 DM), den französischen Camembert gegen deutschen (1,58 DM), auf die Mettwurst verzichte ich ganz, vegetarische Kost ist ja auch viel gesünder, und altes Brot bekomme ich vielleicht vom Bäcker nebenan geschenkt.
Über den runden Spionspiegel verfolgt der Krämer meinen Einkauf. »Jeder Diebstahl wird angezeigt — Fangprämie 50 DM«, warnt mich ein Schild an der Wand. »Na, was haben wir denn Schönes ?« fragt mich der Kaufmann, als ich meinen Korb neben die Kasse stelle. Sein spitzer Zeigefinger, mit dem er die Preise eintippt, kommt mir vor wie der Schnabel einer Krähe. »Macht genau sieben Mark und achtundachtzig Pfennige .« Ich greife in meine Hosentasche und falte meinen Lebensmittelgutschein auseinander. »Aha«, sagt der Mann und mustert mich über den Rand seiner Brille. »Acht Mark, was nehmen wir denn da noch Schönes für den Rest, Wechselgeld gibt’s ja nicht auf Schein .«
Viel Schönes ist für zwölf Pfennige nicht zu haben. Vielleicht etwas Süßes, schon lange habe ich Heißhunger auf Schokolade, aber die ist unerschwinglich. Die Rolle Lakritz kostet zwei Pfennige zuwenig, von den Gummibärchen, Stückpreis 1 Pfennig, sind nur noch fünf da, der Kaufmann wird ungeduldig. »Nun mal zu, ich hab noch andere Arbeit .« Da ich mir nicht mehr zu helfen weiß, greift er sich meinen Quark, Fettstufe 20 %, geht damit zur Kühltruhe, tauscht ihn ein in Magerquark, der 28 Pfennige billiger ist, nimmt sich aus der Süßigkeitenabteilung eine Kokosnußwaffel für 40 Pfennige und sagt: »So, jetzt brauch ich noch eine Unterschrift.« Artig quittiere ich auf meinem Gutschein den »Empfang der Ware«.
Bundesstraße 1: Paderborn — Salzkotten — Geseke, bei starkem Verkehr und glühender Hitze. Der Rucksack klebt auf dem nackten Rücken, in den Schuhen kocht der Schweiß, und die Autos bringen mich zur Weißglut. Ohne Rücksicht auf Verluste jagen sie wie Geschosse so dicht an mir und Feldmann vorbei, daß uns ihre Druckwellen fast aus dem Gleichgewicht und in den Straßengraben werfen. Der Lärm geht mir durch Mark und Bein, und im Dunst der Abgase wage ich kaum zu atmen — Scheiß-spiel !« Die Fahrer sitzen mit ernsten, entschlossenen Mienen hinter den Steuern, ihre Lippen sind gespannt, ihr Blick ist starr, bei
Weitere Kostenlose Bücher