Deutschland umsonst
Personalausweis, im Staatlichen Studentenwohnheim, Bochum, Laerholzstraße 40. Vom Landschulheim am Solling ins Studentenheim des Ruhrgebiets, das klingt nicht gerade verlockend, und mit jedem Schritt wird mir die Gegend fremder.
In Fürstenberg kenne ich mich noch aus, die Porzellanfabrik, das stattliche Jagdschloß, alles ist mir gut bekannt, auch im ehemaligen Kloster Corvey bei Höxter sind wir mal am 17. Juni mit der Kameradschaft gewesen, das Eis dort war gut, aber schon von Klein-Bosseborn, nur acht Kilometer weiter westlich, habe ich noch nie etwas gehört. Meine Internatskindheit liegt jetzt hinter mir, das Land der kurzen Hosen, und die Trennung fällt schwer.
Trotz des schlechten Wetters verbringe ich die Nächte wieder im Wald. Zusammengekauert unter meinem Regenumhang, den ich an seinen Enden zwischen vier Bäumen zu einem niedrigen, schräg abfallenden Wetterdach verspannt habe, im feuchten Schlafsack, neben dem pudelnassen Hund, ohne wärmendes Feuer, weil auch die Streichhölzer naß geworden sind, und folglich auch ohne eine der Tütensuppen im Bauch, die mir Erna, die gute Seele der LSH-Küche , mit einigem Reiseproviant in den Rucksack gesteckt hat — in solch trostloser Wirklichkeit bleiben mir nur meine Heldenträume: schwülstige Gemälde vom einsamen, gottverlassenen Trapper in der endlosen Wildnis Nordamerikas, zu einer Zeit, als Männer noch Männer waren und das Leben ein Kampf. Die Winchester in beiden Händen, warte ich auf den Angriff der Wölfe, die mich seit Stunden lautlos und unsichtbar umkreisen. Zwei habe ich schon erledigt, nun bin ich wild entschlossen, mit der letzten Kugel im Lauf meine Haut so teuer wie möglich zu verkaufen. Die Bestien sollen mich kennenlernen! »Oh burry me not, in the lone prairie , where the coyotes howl , and the wind blows free ...«
Vor Hainhausen am nächsten Morgen, laut Wegweiser sind es noch fünf Kilometer bis Brakel, stehen ein paar Biwaks gut getarnt in der Wiese. Aber es sitzen keine Rothäute darin, sondern, schon wieder, englische Soldaten, mit schwarzer Kriegsbemalung im Gesicht, die MP lässig um die Schulter gehängt. Feldmann hat sofort den großen Abfallkübel beim Küchenzelt spitz, in dem offenbar wieder gute Sachen zu finden sind. Da mein Verhältnis zur Royal Army seit der Begegnung mit der Panzerbesatzung bei Munster gestört ist, bleibe ich zunächst am Weg stehen und warte, bis mein Hund sich satt gefressen hat. Doch dann beginnt ein weiß beschürzter Kerl, nach Umfang und Kleidung der Koch des Camps, so intensiv mit Brot und Speck um Feldmanns Gunst zu buhlen, daß ich eifersüchtig werde und mich berufen fühle einzuschreiten. Aber der Dicke ist gar nicht zu bremsen, » nice dog« und » what a beauty «, schmeichelt er, zwei irische Setter hat er zu Hause in Manchester, und Mitglied des englischen Tierschutzvereins ist er auch. Im übrigen liebt er Tiere » more than everything «, weil sie nicht lügen können. » Would you like a cup of tea ?« Ich antworte ehrlich und sage, daß ich eher hungrig als durstig sei, aber da muß der Koch passen, hundertzehn Mäuler hat er zu stopfen, die Rationen sind genau abgezählt. Nur Tee ist reichlich vorhanden. Aus einem großen Thermosfaß zapft mir der Küchenbulle einen Blechbecher voll, und ich trinke ihn so heiß, daß ich seine Wärme bis hinab in den Magen spüre. » Whithout tea«, höre ich, » we can’t fight .« Wieso kämpfen? Nun, man ist hier nicht zum Vergnügen, der Feind steht drüben im Westen hinter der Hügelkette, jeden Augenblick kann es losgehen. Was kann losgehen? « The attack «, sagt der Koch, und dann richtet er seine Suppenkelle auf mich und macht »peng, peng, peng«, wie ein kleiner Junge, der Räuber und Gendarm spielt.
Vor dem großen Zelt nebenan, aus dem das Brummen eines Generators zu hören ist, erscheint ein hochgewachsener Mann mit gezwirbeltem Schnauzbart, borstigen Augenbrauen und gepflegter Halbglatze — jeder Inch ein Offizier Ihrer Majestät. Ungewollt nehme ich Haltung an. Freundlich, aber sehr bestimmt fordert mich der Sergeant auf, nach meinem Tee das Militärlager zu verlassen, und zwar » immediately «, man ist in einem Manöver, » everything is top secret «, und beim Wort » secret « vertieft sich seine ernste Falte, die zwischen den blauen Augen genau auf seinen Nasenrücken zuläuft.
Mir ist schleierhaft, was an den paar Zelten so streng geheim sein kann, aber schon zwei Kilometer weiter , westlich soll ich es erfahren. Da
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