Deutschland umsonst
Tee. Die Hitze tut gut, sie vertreibt die letzten klammen Gedanken der Dunkelheit. Die erste Nacht unter freiem Himmel ist überstanden. Ein stärkendes Gefühl, auch ohne weiches Bett und schützendes Dach ausgekommen zu sein. Fast leid tun mir die Leute in ihren Häusern da drüben. Müssen sie nicht Platzangst bekommen zwischen ihren dicken Mauern? Ich fühle mich frei hier im Freien und komme mir sehr überlegen vor. Was soll mir jetzt noch groß passieren!
Feldmann streckt sich und rollt mit langem Gähnen die Zunge zu einer rosa Spirale. Als das erste Moped über die Straße plärrt, stehlen wir uns leise aus unserer Blütenidylle. Wie gestern früh, lasse ich die Sonne links von mir scheinen , gehe also weiter nach Süden, denn geradewegs dort liegt Holzminden.
Doch bevor wir richtig in Bewegung kommen, müssen wir noch manches Hindernis hinter uns bringen. Zunächst ein Autobahnkreuz, ein Drüber und Drunter von Beton und Blech, von Gestank und Lärm — ein Kreuz für den Fußgänger! Nach zwei Unterführungen und mehreren vergeblichen Versuchen, einen Zubringer zu überqueren, stoppt uns eine Motorradstreife. Der füllige Polizist steigt behend von seiner schweren Maschine und fragt, ob ich verrückt sei. Ich verneine die Frage, so ruhig ich kann. Während der Beamte meine Personalien per Funk überprüfen läßt, erkundige ich mich nach einem Weg aus diesem Straßenlabyrinth. Gut einen Kilometer weiter ist eine Brücke, bekomme ich zur Antwort, und kurz dahinter noch eine, und dann bin ich bald in Klecken . Es dauert eine Weile, bis die Zentrale »negativ« durch das Funkgerät quäkt, was anscheinend positiv für mich ist, denn ich bekomme nun meinen Personalausweis zurück. Ich darf weiter.
Hinter Klecken stehen Feldmanns erste Kühe. Skeptisch schnuppert der Hund durch den Stacheldraht und versucht, sich ein Bild von den Riesentieren zu machen, die uns neugierig anglotzen. Die Kuhweide grenzt an ein Waldgebiet, doch meine Hoffnungen auf ein gutes Vorankommen werden bald enttäuscht: Nach nur wenigen Minuten freiem Tritt geraten wir in eine Wochenendkolonie, mit sonnenverbrannten Stadtmenschen in grellen Hollywoodschaukeln vor Klapptischen, gedeckt mit Nescafe , Rama , Nutella und Brötchen oder geschnittenem Sonnentoast. Um jedes Frühstücksglück ein niedriger Jägerzaun, an jeder Eingangspforte der Name des Besitzers in Messing oder Emaille, aus jedem blitzblanken Auto, das neben jedem Häuschen parkt, die Verkehrsinformationen des Norddeutschen Rundfunks: »...ortskundige Autofahrer werden gebeten, die Unfallstelle möglichst weiträumig zu umfahren .« Die Stadt hat uns noch immer nicht losgelassen, und sie behält uns in ihrem Griff bis tief hinein in den Naturschutzpark Lüneburger Heide. Denn es ist ein schöner Maisamstag, und die Massen wälzen sich durch das Wacholderland. Statt der Autos dominieren hier die Klappräder, die sich — Väter vorne, Kinder in der Mitte, Mütter als Schlußlicht — ihren Weg am Fußvolk vorbei durch den Sand klingeln.
Überall mahnen uns Schilder, die markierten Wege nicht zu verlassen, die Ruhe zu wahren und die Schönheit der Natur zu achten. Ich habe hier kein Auge für die Natur, die vielen Menschen verstellen mir den Blick, machen mich aggressiv, ich will nichts wie weiter, weg von dem Trubel, Abstand gewinnen, Strecke machen.
Salziger Schweiß rinnt mir die Stirn herunter und macht mich durstig. Es ist viel zu heiß für diese Jahreszeit. Die Füße werden schwerer mit jedem Schritt. Mein rechter Schuh scheuert beharrlich an der Ferse. Spürbar wächst da eine Blase, die sich wie ein taubes Polster zwischen das Fleisch und die Wollsocken legt. Wann wird sie platzen? Ich zähle jeden Schritt des rechten Fußes. Fünfzig Schritt bis zum Baum, hundertfünfzig Schritt bis hinter die Kurve, zweihundertzwanzig Schritt bis an die Schranke vor dem Parkplatz, und immer noch rutscht das Wasser unter der Haut hin und her. Am Wirtshaus »Lönsklause« ist es dann soweit: Die Blase zerplatzt — ich spüre den lang erwarteten beißenden Schmerz, der sich über die Achillessehne bis zur Wade hin hochzieht. Pause. Auf der Cafeterrasse des Lokals viele Menschen unter rotweißen Cinzano-Sonnenschirmen . Die Gäste mustern uns mit Respekt: meinen Rucksack, meinen Wanderknüppel, in der Stadt noch eher kuriose Gepäckstücke, dazu den Hund. Eine Frau fragt mit schriller Stimme, ob ich der Schäfer sei. Niemand lacht, die Frage ist ernst gemeint. Der Naturbursche im
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