Deutschland umsonst
sie dann genüßlich am Gaumen, kaue, obwohl da nichts zu kauen ist, ein wenig mit ihnen herum, bevor ich sie in mir herunterrinnen lasse. Die Frau gewinnt Gefallen an meinem Appetit und schüttet mir noch zweimal den Teller randvoll. »Wohl länger nichts mehr gehabt ?« fragt sie. »Drei Tage«, antworte ich kurz mit vollem Mund, was strenggenommen gelogen ist. Doch wer zeit seines Lebens gewöhnlich dreimal täglich gegessen hat, dem erscheint bei der ersten größeren Unterbrechung dieses Rhythmus das Hungergefühl schier unerträglich. Noch mehr aber quälte mich die Ungewißheit, ob ich überhaupt ohne Geld irgendwo von irgendwem etwas zu essen bekäme.
Nach dem dritten Teller bedanke ich mich und will weiter, doch weiterzukommen soll hier schwer sein. »In unserer Gegend ist der Krieg noch immer nicht zu Ende«, sagt mir die Bäuerin. Nach ihren Schilderungen sind wir umzingelt von riesigen Manövergebieten, eine kleine zivile Enklave im größten Panzerübungsgebiet der Republik. »Sonntags ist das hier schon mal n büschen ruhiger«, sagt die Frau, »aber wart mal ab, morgen geht das wieder rund, da versteht man manchmal sein eigenes Wort nicht mehr .« Erst im letzten Herbst haben sie drei Manövergranaten aus den Rüben gezogen, und in Munster ist sogar mal ein Fehlschuß im Kirchturm gelandet. »Wer es nicht gewöhnt ist, der kann hier schnell verrückt werden«, warnt mich die Bäuerin, »mach man nur, daß du Land gewinnst !«
Mir steht dazu nur der Weg nach Munster offen, durch einen schmalen zivilen Korridor zwischen zwei Schießplätzen. Ich traue der Landschaft vor dem Garnisonsstädtchen nicht mehr, ihr Sonntagsfrieden ist mir suspekt. Hinter den Bäumen sehe ich verdächtige Bewegungen, aus Büschen ragen Äste wie Geschützrohre, halb umgestürzte Bäume werden zu Abschußrampen für Raketen. Wann geht’s hier wieder rund?
Aber dann, so unvermittelt und plötzlich wie heute mittag den Panzer mitten im Wald, sehe ich sechs halbnackte Kinder im Bach bei einer wilden Wasserschlacht. Jeder spielt gegen jeden, und die wollenen Badeshorts und bunten Unterhosen leuchten nur so ins Land. Das Rinnsal ist zum Schwimmen viel zu flach, aber wer von den Knirpsen kann schon schwimmen? Feldmann kann es auf Anhieb — drei Sätze, und er ist drin, der rote Ball hat es ihm angetan. Die Kinder jubeln. »Komm du auch«, rufen sie mir zu, »kannst in den Kasten, bist so schön groß .« Ich zögere ein wenig, bis ich es wage, mit meiner Unterhose in das angenehm kühle, gar nicht so schmutzige Wasser zu steigen. Mein »Kasten« sind zwei Stöcke, die im Bachbett stecken. Nun stürmt die Meute, aber nicht aufs Tor, sondern zunächst auf den Sommersprossigen, der den Ball hat. Jeder will mich zuerst prüfen, heftiges Gerangel entsteht, Feldmann verstärkt das Durcheinander, und bald liegen alle im Wasser.
So geht das den ganzen Nachmittag, Weinen und Lachen wechseln schnell, Torwürfe sind selten, und wenn mal ein Ball kommt, dann halte ich ihn fast nie, weil ich bis zu den Schienbeinen bewegungsunfähig im Schlick festbetoniert bin. Meine kinderleichten Gegner sind mir weit überlegen. Nachdem unsere Lippen blaugefroren sind, lassen wir uns von der Sonne trocknen und wechseln dann unsere Sachen. Dabei bestätigt sich meine Vermutung, daß ich gegen ein gemischtes Team gespielt habe, denn » Tiggy « alias Tanja, sieben Jahre alt, ist wirklich ein Mädchen.
Erst auf dem gemeinsamen Weg in das heimische Dorf der Kinder kommen die Fragen: »Bist du ein Wandersmann ?« »Ja«, antworte ich, und die Bezeichnung Wandersmann gefällt mir. »Und wohin wanderst du ?« »Immer geradeaus.« »Und wenn der Weg eine Kurve macht?« »Dann gehe ich über den Stoppelacker .« Da blitzt es in den Kinderaugen.
Auf dem kurzen, geraden Weg bis zu den ersten Häusern höre ich viele Geschichten: vom Kalb, das letzte Nacht gestorben ist, erstickt unter der eigenen Mutter, von den Soldaten, »die alles kaputtmachen«, vom Rechenlehrer, den sie nicht ausstehen können. Als ich mich schließlich vor der Haltestelle der Bahnpost verabschiede, fragt mich das Mädchen: »Nimmst du uns mit ?«
Allein gehe ich weiter. Hamburg liegt erst kurz hinter mir, und schon gibt es wieder Häuser, Straßen, Lärm. Nahe einer Kaserne stehen Männer in Uniform Schlange vor einem italienischen Eiswagen. Die Wache am Haupttor hat schon, Gewehr bei Fuß, eine Waffel in der Faust. Auch hier droht mir ein Schild: »Vorsicht — Schußwaffengebrauch !« Ein
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