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Deutschland umsonst

Deutschland umsonst

Titel: Deutschland umsonst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Holzach
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blau an. Der Penis schrumpft fast auf Rosinengröße. Der herabprasselnde Bach massiert mir das taube Hirn. Im Spritzwasser bildet sich ein blasser Regenbogen. Er ist zum Greifen nah, und wenn ich die Augen schließe, sehe ich ihn leuchten. Freda müßte jetzt schon längst hinter Heidelberg sein. Heidelberg ist meine Geburtsstadt, aber nichts zieht mich dorthin. Im Augenblick gibt es überhaupt keinen Ort, der eine Anziehungskraft auf mich hätte, und München ist noch weit. Am liebsten würde ich hier im Wasser den ganzen Sommer verbringen, so wohl und leicht ist mir.
    Irgendwann im Laufe des Nachmittags geht es dann doch weiter. Der Wetterumschlag hat das Land mobil gemacht. Überall tuckern die Traktoren der Bauern über die Felder, um von der Ernte, die man heuer schon ins Wasser gefallen sah, zu retten, was noch zu retten ist. Die Wiesen warten schon lange auf den ersten Schnitt, das Wintergetreide ist in wenigen Tagen erntereif getrocknet, und auch die späten Kirschensorten bekommen entgegen aller Erwartung zusehends Farbe. Was gewöhnlich nach und nach heranreift, schreit in diesem Jahr alles auf einmal nach dem Bauern. Da wird jede Hand gebraucht, und solange es hell ist, kommen die Dörfer nicht zur Ruhe.
    In Vöckelsbach will ich eigentlich nur meine Feldflasche auffüllen, aber der Bauer Herold läßt » son kräftischer Kerll « wie mich jetzt nicht einfach weiterziehen. Ob ich ihm nicht ein wenig zur Hand gehen könnte, fragt er und schenkt mir mit pfiffigem Blick kräftig von seinem selbstgepreßten « Äbbelwoi « ein, obwohl ich lediglich um Wasser gebeten hatte. Nur zu gern lasse ich mich dazu überreden, ein paar Tage nützlich zu sein, bei freier Kost und Logis in der Scheune. Mir gefällt die direkte Art des schmächtigen Bäuerleins, das nicht viel herumfragt und mich so nimmt, wie ich bin.
    Mein Arbeitsplatz ist der schönste, den Bauer Herold zu vergeben hat. Nicht in den stickigen Kuhstall schickt er mich, nicht auf die staubigen Gerstenfelder, nein, hoch oben im riesigen Kirschbaum hinter der Scheune reite ich auf den weit ausladenden Ästen und stille vier Tage lang meinen Kirschenhunger. Ich brauche nur hinzulangen, die Früchte, groß wie Pflaumen, hängen in satten Trauben dicht an dicht, sind saftig, fleischig, süß und machen mich fast besoffen. Ganz nebenbei fällt da auch mancher Zentner in meine Pflückeimer, die ich, sobald sie voll sind, in die Küche schleppe, wo die Frauen das Obst den ganzen Tag über zu Most, Marmelade und Eingemachtem verarbeiten. Dutzende von Flaschen und Gläsern aller Größen stehen da auf Tischen und Kommoden, auf dem Herd dampfen riesige Töpfe und Kessel, und die achtzigjährige Oma Herold läßt sich den Schweiß vom grauen Haar ins faltenzerfurchte Gesicht rinnen.
    Oben in den Kirschbaumzweigen aber ist es luftig. Schräg unter mir, eingebettet im engen, gut überschaubaren Tal, zwischen dichtbewaldeten Hängen, liegt Vöckelsbach , ein Dorf, das eigentlich aus zwei Teilen besteht. Im Norden die soliden alten Höfe mit ihren viereckigen Grundrissen, wie kleine Festungen nach allen Seiten gesichert, mit sauber gestapelten Brennholztürmen, dampfenden Misthaufen und wildem Wein, der sich an den Wänden der Innenhöfe emporrankt , ohne Chance, in dieser gebirgigen Höhe je reif zu werden. Südlich anschließend dann das andere Vöckelsbach , eine der sterilen Fertighaussiedlungen, wie sie mir schon zu Hunderten begegnet sind, charakterlose Behausungen zwischen gepflegten, auf Golfplatzlänge getrimmten Grünflächen, zwischen adriablauen Schwimmbecken und purpurroten Rosenbeeten, ein seelenloser Großstadtvorort, der sich da drüben breitgemacht hat wie ein Geschwür.
    »Fabrikbesitzer, Benzdirekter — alles hommer do«, sagt mir der Bauer beim Abendbrot vor dem Fernseher, und er sagt es wie jemand, der sich nach viel Mühen dazu durchgerungen hat, auf etwas stolz zu sein, was er nun auch nicht mehr ändern kann. Nachdem der Bürgermeister sich von der Fertighausgesellschaft hat breitschlagen lassen, die Grundstücke im Süden für billiges Geld zu verscherbeln, ging alles seinen Gang. Die Bagger kamen, die Bäume fielen, aus Wiesen wurden Baustellen, und nach einem Jahr war Vöckelsbach nicht mehr Vöckelsbach . Neben den 27 alten Bauernburgen standen 25 Villen, die Straßen waren breit geworden, bekamen Bürgersteige zur Seite und grelle Laternen, die die Nacht zum Tag machen. Wo früher normalerweise drei Autos verkehrten, morgens das

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