Deutschland umsonst
Zatopek lachen: »Aus Spaß geh ich nicht mal zum Zigarettenautomat, das wird ja nicht gewertet .«
In Schönbrunn, auf der anderen Seite des Neckars, ist das Ziel des Volkslaufs. Die Freiwillige Feuerwehr, das Rote Kreuz und der Katastrophenschutz sind aufgeboten, um der Wandermassen Herr zu werden. Straßen sind für den privaten Autoverkehr gesperrt, Ambulanzwagen jagen mit Blaulicht durchs Dorf, um ins Krankenhaus zu bringen, wer sich in der Hitze übernommen hat. Im Schulhaus ist das Anmeldebüro des IVV, dort gibt es den Wertungsstempel, die Wanderorden und jeden erdenklichen Schnickschnack, mit dem sich irgendwie Geld machen läßt: Wanderstöcke, wandernde Gartenzwerge, Bleistiftspitzer in Form eines Wanderschuhs und natürlich bunte Postkarten mit dem Porträt des Bundespräsidenten, der hier so populär ist wie sonst wohl nirgends im Lande.
Auf heißem Asphalt geht’s über die »Deutsche Burgenstraße«, den Neckar entlang. Vorbei an stolzen Ruinen: Eberbach, Stolzeneck, Minneburg, Dauchstein . Doch dann, hinter einer scharfen Flußbiegung, eine Burg, die hier so gar nicht in die Neckarromantik paßt, eine bedrohliche Festung aus Beton, mit einer runden Kuppel, stacheldrahtumgeben, ich weiß sofort, was das ist, weil so ein Ding nahe dem Fluß nichts anderes sein kann als eben ein Atomkraftwerk. Namen gehen mir durch den Kopf: Wyhl , Brunsbüttel, Krümmel , Grohnde , Biblis, Ohu , Fessenheim , aber die liegen alle ganz woanders, Grafrheinfeld , Stade , Brokdorf — Obrigheim, jetzt weiß ich, wo ich bin. Direkt am hohen Gitterzaun sehe ich ein buntes Zeltlager. Zerbeulte VW-Busse, Gitarrenmusik, junge Leute in Badehose. Ein Anti-Atomkraftdorf, denke ich, ganz schön dreist, so nah am Objekt.
Doch ich irre mich gründlich. Die Langhaarigen sind keine Atomkraftgegner, sondern Studenten, die hier während ihrer Semesterferien als Strahlenschutztechniker aushelfen, solange im Kraftwerk die Brennelemente ausgetauscht werden. Halbwegs vom Fach ist nur ein Knabe aus Jülich, der Physik im sechsten Semester studiert, ansonsten sind noch ein Sportstudent, ein angehender Byzantinist und ein durchs Examen gefallener Chemiker hier. Von Kernenergie verstehen sie »ziemlich wenig«, was aber auch nicht nötig sein soll bei ihrem Job. Acht Stunden täglich sitzen sie im Schichtdienst vor der Schleuse zum Reaktorbereich, kontrollieren die Ausweise der Besucher und achten darauf, daß sich jeder, der in die kritische Zone des Kraftwerks will, von Kopf bis Fuß umzieht, damit ja keine radioaktiven Teile an den Kleidern mit nach draußen gelangen, »die kriegt nämlich keine Waschmaschine mehr raus«. Bezahlt werden für diese Arbeit Traumlöhne. Zehn Mark gibt es pro Stunde plus fünfzig Mark steuerfreie »Tagesauslösung«. Um die fünfzehn Mark Übernachtungsspesen zu sparen, wohnen die Strahlenschutzgehilfen hier im Zelt direkt neben ihrem Arbeitsplatz und kommen so im Monat auf vier- bis fünftausend Mark netto. Einen besser bezahlten Job hat keine studentische Arbeitsvermittlung anzubieten. Für mehr Geld würden die Jungs auch Barrikaden der Atomkraft-Nein-Danke-Bewegung bauen, »aber das sind ja alles Idealisten«, sagt der Sportstudent.
Abends beim Bier, von dem mehrere Kisten unterm Gartenschlauch kühlstehen , wird viel geplaudert von Millirem und Röntgen. Jeder der AKW-Hiwis erzählt, was er schon an Radioaktivität hat einstecken müssen in diesen Semesterferien. Fünftausend Einheiten pro Jahr ist das gesetzlich zulässige Maximum, der Byzantinist liegt bereits bei tausendzweihundert, der Sportler nur knapp darunter. Wenn mal ein Dampfrohr undicht ist und »zugeschossen« werden muß, stellt die Reaktorleitung angeblich gern »Türken« ein. Für einen Wochenlohn , so erzählt man mir, müssen die Gastarbeiter dann genausolange am strahlenden Unfallort arbeiten, bis sie ihre Jahresration von fünftausend Millirem »drin« haben, und das dauert, je nach der Radioaktivität, zwischen dreißig und fünfzig Sekunden. Ist das leckgeschlagene Rohr in dieser knappen Zeit noch nicht dicht, so werden die nächsten Türken in die Strahlen geschickt. »Verheizen« nennt man dieses Verfahren im Kernkraftjargon.
Mir klingen bei solchen Geschichten die Ohren. Keine zehn Meter von uns entfernt liegt der AKW-Zaun im grellen Neonlicht. Ein Fahrzeug des werkeigenen Wachdienstes fährt Patrouille und grüßt mit kurzem Hupen. Es ist spät geworden. Bierselig wankt der Sportler zum Nachtdienst, vermutlich um in der
Weitere Kostenlose Bücher