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Deutschlandflug

Titel: Deutschlandflug Kostenlos Bücher Online Lesen
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zu haben.
    Was bedeuteten die klassischen Werke der Kunst und Kultur gegen die Errungenschaften der Technik? Was war ein amputierter Engel von Samothrake, ein Abguß des Nofretete-Kopfes, was waren Neunte und Duineser Elegien gegen die perfekte Stromlinienform eines Formel-2-Rennwagens oder Hochleitungsflugzeuges? Wer wollte noch vor einer Madonna im Rosenhag stehenbleiben, wenn draußen die neueste Schöpfung eines Flugzeugwerkes vorbeiröhrte?
    Seit längerer Zeit beobachteten die beiden Piloten eine Mücke, die mit herausfordernder Mißachtung ihres angespannten Seelenzustandes ihre Köpfe umsirrte und sich nach Belieben auf den Instrumenten zu schaffen machte.
    Brinkmann, der von rückwärts mehrere vergebliche Fangversuche gemacht hatte (man müsse sie mit halb geöffneter Hand von vorn angehen, Insekten und Vögel flögen niemals nach rückwärts auf), fragte sich, woher sie wohl käme. Aus Nordafrika? In der Ersten Klasse übers Mittelmeer gereist? Im Frachtraum zusammengekauert als blinder Passagier aus Teheran angeflogen? Oder in der Werft aus einem Lufthansa-Jumbo aus Thailand umgestiegen?
    »Culex pipiens!« sagte Mahlberg, der einmal sehr gut in Biologie gewesen war. »Die Gemeine Stech- und Hausmücke!«
    »Jetzt, im Mai schon?« Brinkmann war froh, von seiner Schalttafel abgelenkt zu werden. Streitgespräche hielten am ehesten von tristen Gedanken ab. »Wohl eher Muckerius malaria – aus den reizvollen Sümpfen Hinterindiens!« Wie alle technisch versierten Menschen, die einfachsten Naturvorgänge nicht mehr durchschauten, hatte er eine hysterische Angst vor Ansteckung, Vergiftung und Tropenkrankheiten. »Jetzt sitzt sie bei Ihnen, Captain. Direkt auf dem Machmeter!«
    Aber Bloch hielt es für unter seiner Würde, zuzuschlagen. Er wußte, er würde sie verfehlen.
    Was er brauchte, war ein Erfolgserlebnis. Aber woher holen – auf einem Terrorflug wie diesem?
    Erfolgserlebnisse ließen sich nicht vorprogrammieren wie die Position Frankfurts, die Mahlberg gerade eingab: Nord 50° 3°, Ost 08° 34,3° …
    Dollinger erkannte Coburg, das er in seiner Jugendzeit besonders geliebt hatte: die Renaissancebauten, die spätgotische Moritzkirche und, sanft getragen von der grünen Hügelwelle, die Veste auf dem Dolomitfelsen. Hier hatte Lucas Cranach der Ältere gearbeitet, und hier hatte Dollinger damals nicht nur einige der 340.000 Kupferstiche gesehen, sondern auch die Marter des heiligen Erasmus. Ein Bild, das ihm jetzt in allen grausigen Einzelheiten ins Gedächtnis schoß:
    Zwei Folterknechte bearbeiten den Heiligen. Der eine dreht seine Eingeweide mit einer Winde aus dem geöffneten Bauch, der andere faßt, das Messer zwischen den Zähnen, in die Leibesöffnung, um den Rest so sauber zurechtzulegen, daß er sich einwandfrei aufwinden läßt.
    Es war das Bewußtsein dieser Ordnungsliebe, dieser unmenschlichen Korrektheit, das Dollinger erschreckte. Die ganze Perversität des gewalttätigen 20. Jahrhunderts kam in diesem Bild aus den Anfängen des 16. Jahrhunderts zum Ausdruck. Man brauchte nicht erst Assoziationen mit KZs oder den Vernichtungsorgien moderner Kriege herzustellen. Auch die Bombe, mit der sie aus dem Leben gerissen werden konnten, war eine saubere und technisch gewiß bewundernswerte Angelegenheit. Das Tauschgeschäft zwischen Regierung und Erpressern letzten Endes auch. Man würde alle Vor- und Nachteile sachlich und leidenschaftslos gegeneinander abwägen – so sah Dollinger den Fall. Ob den Opfern dabei die Gedärme aus dem Leib gedreht wurden oder ob ein exakt programmiertes Gerät im richtigen Augenblick Tote produzierte, war dabei gleichgültig.
    Später wies ihn der Kapitän über die Bordanlage auf Rothenburg ob der Tauber hin. Im milchigen Dunst schwebten die mittelalterliche Stadtmauer, die Doppelbrücke, die Kobolzeller Kapelle vorbei. Vergeblich suchte er das Plönlein, das Hegereiterhaus und das Toplerschlößchen herauszufinden, die Perspektive aus der Luft war ihm ungewohnt. Er dachte ans Laienfestspiel vom Meistertrunk: 1631 hatte Tilly die Stadt besetzt. Dem Bürgermeister wurde ein Drei-Liter-Krug mit vergiftetem Wein angeboten; trank er ihn, so käme die Stadt davon.
    Der Bürgermeister, mit Namen Nusch, wagte es; der Wein war nicht vergiftet, die Stadt kam davon. Dollinger mochte es drehen, wie er wollte: Überall stellten sich Beziehungen zu seinem Schicksal her; selbst über der Romantischen Straße. Gab es jemand an Bord, der eine ähnliche Tat vollbringen würde,

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