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Deutschlandflug

Titel: Deutschlandflug Kostenlos Bücher Online Lesen
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damit die Mitinsassen davonkämen?
    Und auch über Dinkelsbühl fiel ihm ein Beispiel ein. Da gab es den Festzug der Kinderzeche, der auf den Dreißigjährigen Krieg und die Schweden zurückging. Damals waren es, einer hübschen Legende nach, die Kinder der Stadt gewesen, die sie vor der Vernichtung bewahrt hatten:
    Der Feind stand dräuend vor dem Tor,
Oh weh, wer hilft uns Armen?
Da drang die Bitte an sein Ohr:
Hab doch mit uns Erbarmen.
    Sieh hier der zarten Kinder Schar,
Wer soll uns speisen, tränken,
Willst du der Stadt, die uns gebar,
Nicht Gnad und Frieden schenken?
    Da ward des Feindes Herz erweicht,
Das Schwert fuhr in die Scheide,
Viel Mutterherzen wurden leicht,
Und alles ward voll Freude.
    Ein ganzes Flugzeug voller Kinder würde nichts bewirken (er hatte sieben gezählt). Die Kinder hätten auch damals nichts erreicht; es war ein hübsches Märchen. Wo Gewalt, Macht und Profitgier regierten, wurde nie unterschieden zwischen Schuldigen und Unschuldigen …
    Während die ›Steppenadler‹ über den südöstlichen Teil der Bundesrepublik der Zugspitze entgegenflog, schrillte bei Niko Grigoris im Westend die Weckuhr.
    Bei den flotten Klängen von James-Last-Partymusik reckte sich Niko im Bett auf.
    Um 16.30 Uhr kam auf Hessen 3 eine Sondernachricht durch, die offensichtlich den Hörern schon einmal mitgeteilt worden war. Niko schlüpfte in seine Diensthose und blieb mit dem linken Bein stecken, als er dem Nachrichtensprecher zuhörte. Ein Flugzeug der ›Avitour‹ kreiste mit einer Bombe an Bord über der Bundesrepublik. Auf dem gerade eröffneten Otto-Lilienthal-Flughafen habe sich eine Gruppe von fünf Terroristen eingenistet, die offenbar die Bombe gelegt habe. Die Bundesregierung sei dabei, die Bedingungen der Erpresser zu erfüllen, arbeite aber noch daran.
    In Nikos Kopf ging ein Riesenmühlrad herum. Um in ihm vertrauteren Begriffen zu reden: Er fühlte sich wie nach dem vierten Raki, wenn er auf beiden Seiten des Bootes Thunfische sichtete.
    Dollinger, längst östlich von Frankfurt, ahnte nichts von den Gedanken Nikos; er hätte in ihnen keine Beziehung zu der Problematik entdeckt, in der sie alle steckten.
    Er erinnerte sich der Volksfeste, die er dort unten, im und am Odenwald, zwischen Nibelungen- und Siegfriedstraße, einst mitgefeiert hatte: den Trödlermarkt im alten Stadtkern Eppingens, den Kuckucksmarkt in Eberbach, den Bohrermarkt in Neckargemünd, die Fischerfeste am Rhein und die Weinfeste an der Bergstraße. Er hatte das Spargel- und das Kirschenfest miterlebt, die Prozessionen, Karnevalsumzüge, Kostümfeste, Messen und Jahrmärkte. Er kannte die Schlösser in Mannheim, Schwetzingen, Bruchsal, Karlsruhe, Ettlingen und Weinheim. Während seiner Studienzeit hatte er die Fachwerkstädte Mosbach und Eppingen besucht, die zweitausendjährige Stadt Ladenburg und das Pforzheimer Reuchlinhaus.
    Er liebte die spezifische Hausmannskost dieser Landschaft: Omelett mit Stangenspargel. Odenwälder Bachforelle. Linsen mit Spätzle und Rauchfleisch. Wildschweinnacken mit Klößen. Maultaschen in Fleischbrühe.
    Diese vertraute Landschaft mutete ihn plötzlich feindlich an. Mit ihren Giebeln, Rundbögen, Spitzdächern, Erkern und Dachreitern standen die heimeligen Dörfer und Kleinstädte bereit, ihn aufzuspießen und zerschellen zu lassen.
    Er hatte immer schon eine Antipathie, eine geheime Angst beim Fliegen empfunden. Die Luft war dem Menschen ein fremdes Element. Seine Urängste reichten in eine Zeit hinein, als das Mittelmeer nichts als ein schwarzklaffendes Loch war – gegen den drängenden Atlantik durch einen Gebirgsdamm geschützt. Einst, bei einer der zahlreichen paläontologischen Erschütterungen, brach der Damm. Mit der Gewalt der Niagarafälle stürzte der Atlantik ins geologische Vakuum. Zweitausend Jahre waren nötig, das Becken zu füllen.
    So brach jetzt die Angst durch den dünnen Damm zivilisatorischer Scheingeborgenheit.
    Und während Dollinger verzweifelt versuchte, seiner Angst Herr zu werden, begannen in Nikos Gehirn die Bilder zu rotieren; und alle zeigten Hanna in Nahaufnahme, Hanna, die sich an jenem Katastrophentag, der knapp zwei Wochen zurücklag, von dem größten Erfolg in seinem Leben zu seiner größten Bedrohung verwandelt hatte. Als sei ein Magier am Werk gewesen, der, puff, hinter einer violetten Explosionswolke eine komplette Landschaft habe verschwinden lassen.
    Da war Hannas Bad, Hannas Bett, da war sie selber, in einem hauchdünnen Seiden-Negligé ins

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