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Deutschlandflug

Titel: Deutschlandflug Kostenlos Bücher Online Lesen
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vortäuschten, wo nur elektrische Impulse abliefen. Niemand hatte ihren Schrei gehört. Ließen diese Menschen sich wirklich so leicht von jeder Bedrohung ablenken? Oder spielten sie alle nur brav ihre Rolle? Man hatte ihnen Filmunterhaltung angeboten; und sie wußten, was sie ihrem Flugschein schuldig waren: Sie gehorchten?
    Sie erhob sich mühsam und streifte durch die Kabinenabteile. Leichte Turbulenz ließ ihren Gang unsicher erscheinen.
    Das ganze Flugzeug war weiter nichts als ein einziger Irrgarten aus Spalten, Nischen, Luken, Klappen, Furchen und Ritzen. Risse, Rillen, Fugen und Scharten – alles eignete sich als Versteck. Die Halbkugeln der Luftdüsen sahen selber wie Minibomben aus. Die Sitztaschen steckten voller Zeitungen, Bücher, Kopfhörer, Pantoffeln, Brillenetuis, Kopftücher, Kissen. Der Filmapparat, der elektrisch aus der Decke und zurück in seinen Hohlraum fuhr: Hatte man ihn schon überprüft? An einigen Fenstern waren die Sonnenblenden heruntergelassen – was steckte dahinter? Der selbstklebende Filzbelag der Gänge zeigte Beulen. Hatte man sie schon untersucht? Die Garderoben standen voller ungeordnetem Crewgepäck – raus damit und den Boden abgesucht.
    Sie gab sich plötzlich einer panikartigen Geschäftigkeit hin, winkte zwei Kolleginnen heran, die ihr bereitwillig halfen.
    Sie waren mehr als zehn Jahre jünger; und Margot, im Bemühen, sich abzulenken, fragte sich, welche Beziehung sie noch zu ihren Kolleginnen besaß. So alt war sie selber einmal gewesen; aber war damals nicht alles ganz, ganz anders gewesen? Damals wurde noch Damenhaftigkeit mit einem tüchtigen Schuß Sex verlangt, man übte im ›Avitour ‹-Lehrgang wochenlang Aufstehen, Hinsetzen und Schreiten aus der Hüfte. Heutzutage flunschten sich die jungen Mädchen ungeniert und ungraziös in ihre Stühle. Und die gleichen ›Avitour‹- Ausbilder, die einst altgediente und verdiente Stewardessen entlassen hatten, weil sie in irgendeiner minimalen Kleinigkeit nicht den damaligen Vorschriften entsprachen, stellten jetzt Stewardessen ein, die mit der Grazie eines Charlie Chaplins durch die Gänge schlurften … Sie ertappte sich, wie ihre Gedanken mehr und mehr abschweiften. Dabei arbeiteten ihre Kolleginnen mit bewundernswerter Gewissenhaftigkeit und Selbstbeherrschung .
    Einmal, in einer cognacbeschwingten Spätstunde, nach einem Zwölfstundenflug völlig aus dem Rhythmus geworfen, sozusagen jenseits von Gut und Böse, jenseits des 180. Breitengrades, hatte sie für Thomas das einzige Gedicht ihres Lebens geschrieben. Ein Abschnitt daraus lautete:
    Liebe: ein Flug, der heil nie
Zur Erde zurückkehrt, der
An den Sternen endet oder
Im Absturz …
    Gelnhausen … War das nicht Gelnhausen dort unten, das mittelalterliche Stadtbild – beherrscht von der Marienkirche? Ja, dort auf der Kinziginsel lagen die Ruinen der staufischen Kaiserpfalz. Am Ufer der Kinzig hatten sie einmal gezeltet, hatte Thomas ihr aus dem ›Simplicissimus‹ vorgelesen: Da es taget, füttert ich mich wieder mit Weizen, begab mich zum nächsten auf Gelnhausen, und fand daselbst die Tor offen, welche zum Teil verbrannt und jedoch noch halber mit Mist verschanzt waren: Ich ging hinein, konnte aber keines lebendigen Menschen gewahr werden, hingegen lagen die Gassen hin und her mit Toten überstreut …
    Mit Toten überstreut … Ausgerechnet jetzt mußte ihr dieses Zitat in den Sinn kommen. Ausgerechnet jetzt, wo sie ihren Wohnort, ihr Haus überflog. Schon vor Jahren, als sie noch regelmäßig unterwegs war, hatte sie bei jedem Anflug auf Rhein-Main rechts gesessen und hinuntergesehen auf ihre Flachdachvilla mit unverputzten Steinen, auf die wildwuchernde Gartenwiese mit der Mauer im Tessiner Stil, auf der ihre Kinder spielten. Jedesmal hatte sie denken können: In vier Minuten bin ich gelandet, in dreißig im Wagen unterwegs zu euch, in anderthalb Stunden schließe ich euch in meine Arme. Immer hatte sie ihr Haus im Anflug, nie aus einer Höhe von mehr als 10 km gesehen …
    Dollinger warf einen Blick hinaus und erkannte sofort: der Feldberg, Taunus. Er sah, nördlich davon, Oberreifenberg liegen, Schmitten und Anspach. Und von Saalburg bis zu den Parkplätzen des Feldberges zog sich, das wußte er, der Limes nach Südwesten.
    Was er nicht gewußt hatte: daß man die Ringwälle auf dem Altkönig so deutlich sehen konnte! Er hatte ihn immer nur über den Fuchstanz erreicht, zu Fuß von Falkenstein aus. Am Altkönig, einem der höchsten Berge des

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