Deutschlandflug
Er stand inmitten seiner Mitarbeiter und technischen Geräte – inmitten von Computern, die ihm in Bruchteilen von Sekunden Rechnungsarbeiten abnahmen, die Stunden benötigen würden. Die Verantwortung nahm ihm niemand ab.
»Nein!« sagte er überlaut. »Nein und nein! Bloch muß in seiner Höhe bleiben! Um alles in der Welt!«
Jetzt ging der Mond auf. Während im Westen noch ein Himmel voller Orangenrot, Zitronengelb, Purpur hing. In der Schwärze des östlichen Nachthimmels warf er seinen Schein voraus, der sich kaum von dem Lichtglanz der Städte abhob. Dann, mit sichtbarer Geschwindigkeit, stieg er über den Horizont – eine gut ausgefüllte Sichel, die sich in makellosem Rotgold abprägte und die Aufwärtsbewegung erst drei Daumenbreit über dem Horizont verringerte.
Es war 20 Uhr 30, das INS hatte den Überflug Marburgs registriert und gab Impulse an den Autopiloten, das Flugzeug auf 192 Grad zu lenken. Schon legte sich die rechte Fläche tiefer, schon kurvte die ›Steppenadler‹. Die wievielte Steuerkorrektur war das? Die zwanzigste, siebenundfünfzigste, einhundertunddreizehnte? Mahlberg wußte es nicht. Wie spät war es jetzt auf den Bermudas? 17 Uhr 30? 18 Uhr 30? Er wußte auch das nicht mehr. Mechanisch wählte er einzelne Informationspositionen des INS durch. Rechtweisender Kurs 198. Luvwinkel 3 Grad rechts. Ablage vom Kurs 0,7 Meilen. Windgeschwindigkeit 040 Grad mit 65 Knoten. Ein Orkan auf der Erde; hier ein mittlerer Wind, überhaupt nicht spürbar. Es ließ ihn alles kalt. Wie kam man vom rechtweisenden zum mißweisenden Kurs? Vom richtigen zum falschen mit falschem, vom falschen zum richtigen mit richtigem Vorzeichen. Ost hatte plus, West minus. Was sollten alle diese Bauernregeln aus den Anfangszeiten der Fliegerei noch?
In Bloch staute sich explosive Aggressivität. Sie war der einzige Weg zu seiner Selbstbeherrschung.
»Hören Sie mal, Mahlberg: Mir schwebt schon den ganzen Flug über eine Frage auf den Lippen. Mein sechster Sinn hat da eine Vermutung über Sie!«
»Bitte?«
»Als ich heute morgen im Einweisungsraum für Platzanflüge war, bin ich auf ein Buch gestoßen. Das hat da jemand liegenlassen.«
»Was für ein Buch?«
»Trauern unmöglich – oder so ähnlich.«
»Kenn ich nicht! Von wem soll das denn sein?«
»Mitscherlich.«
»Ah! Die Unfähigkeit zu trauern! Ja?«
»Vermissen Sie es?«
»Noch nicht! Aber Sie könnten recht haben! Dort habe ich es gehabt!«
»Lesen Sie immer Mitscherlich im Einweisungsraum?«
»Keinesfalls. Ich hatte es zufällig bei mir!«
Obwohl eigentlich auch Mahlberg die in gereiztem Ton geführte Unterhaltung als Selbstbehauptung hätte auffassen können, empfand er sie als Störung. Mit seinen Gedanken war er beim aufgehenden Mond. Sah er ihn zum letztenmal aufgehen? Wo würde er sein, wenn er unterging?
Seht ihr den Mond dort stehen? –
Er ist nur halb zu sehen,
Und ist doch rund und schön!
»Sonst hatten Sie zufällig nichts bei sich?«
»Was sollte ich denn bei mir gehabt haben?«
»Vielleicht eine Handvoll Dias, die Sie locker zwischen die Anflugdias gestreut haben?«
Unter normalen Umständen hätte Bloch niemals eine derart vage Vermutung geäußert. Während des Fluges hatte sich Haß in ihm aufgestaut, Haß gegen alle, die versucht hatten, die wunderbare Fliegerei, der er sich sein Leben lang verschrieben hatte, in Höllenterror zu verwandeln. Auf allen Lebensgebieten schlichen sich heimtückische Störenfriede und Systemveränderer ein. Harmlose Träumer, verblendete Idioten, radikale Killer. Die eingeschmuggelten Dias erschienen ihm als Symbol für die Unterminierung der altbewährten sozialen Ordnung. Aus zahlreichen Bemerkungen, die sein Kopilot von sich gegeben hatte, aus Anmerkungen in seinen fliegerischen Beurteilungen zog Bloch seine Schlüsse.
Mahlberg spielte verlegen mit den Testschaltern für die Navigationsinstrumente am Overhead Panel.
»Die meinen Sie! Die habe ich gemacht, ja!«
»Sie geben das unumwunden zu? Als ginge es um eine halbe Flasche Schnaps, die Sie nicht beim Zoll angegeben haben?«
»Finden Sie das so schlimm?«
»Schlimm?« Bloch schlug mit der Faust auf das Mittelpodest, freilich nicht, ohne sich am Umschalthebel zwischen UKW 1 und UKW 2 zu verletzen. »Ich find's eine Schweinerei!«
»Schweinerei? Eigentlich war es als Jux gedacht!«
Und laß uns ruhig schlafen!
Und unsern kranken Nachbarn auch!
Je gelassener sich Mahlberg gab, um so wütender und haltloser wurde Bloch. Er stand
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