Deutschlandflug
enthalten, anzumerken. »Meine Schmutzdias haben Ihnen das Leben gerettet!«
»Schon verrückt, wie das Schicksal spielt!« antwortete Bloch. »Die Checkliste!«
Dollinger erhob sich so träge und gelassen, daß Margot fragte: »Können Sie sich nicht trennen von diesem Unglücksraben?«
»Ich habe es nicht so eilig wie Sie! Wartet Thomas draußen?«
»Ich hoffe, ja! Wenn das Fernsehen, die Polizei, die Menschenmassen überhaupt zulassen, daß wir uns ungestört begrüßen!«
Sie eilte weiter, an den mittleren Ausgang und warf einen Blick hinaus. Batterien von Kameras, Mikrofonen, Scheinwerfern. Entsetzt prallte sie zurück.
Und jetzt ließen sie ihre Nerven endgültig im Stich. Sie verkroch sich in die hintere Galley, barg ihr Gesicht in die Arme und schluchzte still vor sich hin.
Dollinger verließ als einer der letzten Passagiere die › Steppenadler‹. Er versuchte, Freude über seine Rettung zu empfinden. Statt dessen stieg tiefe Traurigkeit und Lebensangst vor den kommenden Jahren in ihm hoch. Zwölf Stunden Angst an Bord eines Verkehrsflugzeuges, bloß um danach wieder am Ausgangspunkt zu landen! Darüber noch glücklich sein? Würde man den größten Teil seines zukünftigen Lebens nur noch damit verbringen, nicht umzukommen? Wurde das nackte Überleben mehr und mehr zum einzigen Sinn des Lebens? Was für eine Sinnlosigkeit! Sie glich freilich jener der vergangenen Epoche, in der ein großer Teil der Bevölkerung seinen einzigen Sinn darin sah, zunächst Kinder in die Welt zu setzen und ihren Unterhalt dann als Lebensinhalt zu betrachten!
Er seufzte tief und schloß sich der Schlange an. Er sehnte sich nach einem Gespräch mit seinem Schulfreund Jason.
Als er die Bordtreppe hinunterging, erschrak er kaum weniger über die Zusammenballung der Reporter wie Margot. Er glaubte schon, Jasons Bemerkung dazu zu hören: ›Im Zeitalter der totalen Pseudoinformation gehört nicht einmal mehr Schmerz oder Jubel zum Privateigentum.‹ Und er hörte ihn in seiner gewohnten emotional überladenen Art fortfahren: ›Aber wenn dann die Jusos kommen und die Beseitigung des Privateigentums fordern, dann schrecken die gleichen Herren aus Angst um ihre Grundstücke und Villen gar fürchterlich auf! Seelischer Besitz hingegen ist diesen trostlosen Materialisten fremder als ein Eskimo mit negroidem Blut in den Adern!‹
Seufzend stieg er, unter dem Blitzlicht klickender Kameras, die Bordtreppe hinunter.
Jason war räumlich keine fünf Kilometer von Dollinger entfernt, hatte sich jedoch in eine Welt zurückgezogen, die ihn um Äonen von den Vorgängen in der Stratosphäre dieses deutschen Frühlingstages trennte.
Er war bei Stockstadt zu Fuß über die Altrheinbrücke gegangen, die ihn auf den Kühkopf führte. Als er vor dem Gutshof Guntershausen links abbog, schlug ihm dutzendfach der Gesang der Nachtigallen entgegen.
Es gab sie also noch immer! Sie waren Ende April angekommen und tobten sich in der kurzen Spanne bis Ende Mai mit ihrem Trillern, ihrem Schluchzen und Schmettern und tönenden Crescendo orgiastisch aus, um dann den ganzen Sommer über zu schweigen.
Am Hechtweier, einem winzigen Gewässer, das bei Hochflut mit dem Rheinarm verschmolz, quakten die Frösche. Wenn sie von den Ufersteinen hinunterplatschten, zogen sich Wellenringe bis ans andere Ufer, blitzten auf im Mondlicht und erloschen wieder.
Langsam schlenderte er über den apfelblütenübersäten Dammweg zwischen dichtem Schlehengestrüpp und schwer duftendem Weißdorn am Rheinarm entlang. Der Auwald mit bizarren Weidenköpfen, unter denen Teichhühner und Stockenten nisteten und sich lautlos ins Schilf zurückzogen, prägte seine verkrüppelten Stämme wie Spukgestalten gegen den blauen Nachthimmel ab.
Dann donnerte ein startender Jumbo über den Geyer hinweg, einen Baumbestand, in dem einst, 1952, über 105 Graureiherhorste existierten. Ende der sechziger Jahre war die von Jahr zu Jahr schrumpfende Kolonie endgültig verschwunden. Das größte naturkundliche Kleinod Hessens war zerstört. Als sich Jason unter den Lärmwellen der Turbinen duckte, war er fast glücklich, daß seine Reiher, um die er einst einen ähnlichen Kampf wie jetzt um den gesamten Kühkopf gekämpft und verloren hatte, diesen Störungen nicht mehr ausgesetzt waren. Er hatte einmal in der Camargue erlebt, wie dort die letzten Flamingos Europas unter dem Dröhnen der tief über das Naturschutzgebiet hinwegdonnernden Militärhubschrauber in chaotische Panik versetzt
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