Deutschlandflug
Seen wieder in den Zustand von 1550 zurückversetzen wollen, dann ist das zwar eine zeitliche Rückwendung, aber gleichzeitig das denkbar Zukunftsträchtigste, meine Damen und Herren, weil es uns ermöglicht, auch in der Zukunft zu sein. Zu leben, nicht zu vegetieren! Dieses vielzitierte Rad der Geschichte ist ein trickreiches Werkzeug! Aber abgesehen davon: Hat denn schon einmal einer überhaupt versucht, daran zu drehen? Er würde staunen: Es geht ganz leicht! Unsere Großmagier verkünden aus ihren Stahlkathedralen das Wort von der Unbeweglichkeit des Rades. Das große Rad der Geschichte ist geradezu zu einem kultischen Symbol jener Herren, die Mammon zu ihrem Profitgott erhoben haben, geworden. Und alle, alle scheinen ob ihrer heiligen Worte wie gelähmt und rühren keinen Finger. Dabei würde ein einziger Finger genügen, das Rad rückwärts zu drehen! Zum Beispiel ist nicht einzusehen, weshalb Firmen, die für ihre Produkte durch kostspielige Werbung überhaupt erst künstlich einen Bedarf wecken müssen, ungehindert Meeresstrände und Flußufer besiedeln dürfen! Dreht man das Rad der Geschichte zurück, wenn man die Unterscheidung zwischen After-shaves für den Tag und After-shaves für die Nacht für Nonsens hält? Oder die Produktion von zwölf verschiedenfarbigen Toilettenpapieren? Beschwört man finsterstes Mittelalter herauf, weil man sich stark genug fühlt, den Farbfernseher eigenhändig von Kanal eins auf Kanal zwei zu schalten, statt dafür eine komplizierte teure Fernbedienung zu benutzen? Bei diesen Auswüchsen müssen wir ansetzen, schon die Ausmerzung dieser Nonsensproduktionen würde genügen, den Bodensee für weitere zwanzig Jahre sauberzuhalten. Keiner braucht auf seinen Wagen zu verzichten, nur, um wieder ein paar Forellen im Main vorzufinden. Verzichtet werden müßte auf Profite. Aber eher wird der Bodensee eine Kloake, ehe ein Aufsichtsratsmitglied einer Eisenhütte bereit wäre, auf ein einziges Prozent seiner Gelder zu verzichten!«
Matthias Jason beherrschte nicht die feine Kunst des Understatements. Er steigerte sich regelmäßig in groteske Übertreibungen hinein und entschwand bei seinen zwar engagierten, aber unsachlichen Höhenflügen wie ein Vogel, dem niemand zu folgen vermochte. Die Unruhe wuchs – das war die Quittung! Und wie immer bei derartigen Gelegenheiten riefen einige prompt, er möge doch gleich in die Zone oder über den Ural abziehen! Dort gäbe es zwar kein Großkapital, aber trotzdem, ha-ha, verschmutzte Gewässer. Den Baikalsee zum Beispiel, dessen Flora und äußerst interessante Fauna besonders sensibel auf die Verschmutzung durch Papierfabriken reagiere!
Aber die größere Störung ging von den Polizisten aus, die jetzt in einer Gruppe von acht, neun, zehn Leuten die hinteren Reihen besetzten. Er hatte sich längst an ihren Anblick auf seinen Kundgebungen gewöhnt. Sie hatten nie wirklich eingegriffen; stumm und teilnahmslos starrten ihre Gesichter unter den Helmen hervor, weder Sympathie noch Antipathie zeigend. Aber von ihrer stillen Anwesenheit ging eine seltsame Wirkung aus. Regelmäßig erhoben sich kurz nach ihrem Eintreten mehrere Gäste aus den vorderen Reihen, wo der Mittelstand oder die dringend benötigte High Society der Hörer saß, und verließen den Saal. Sie wollten Skandale um jeden Preis vermeiden, das war verständlich. Aber was zurückblieb, war jener Teil der Jugendlichen, der am ehesten nach Gewalt zur Durchsetzung der Ziele schrie. Zurück auch blieben viele hippiehafte Typen, die wiederholt angeboten hatten, sich in Scharen am Tag der Eröffnung auf die Rollbahnen zu legen.
Ein Angebot übrigens, das er ernsthaft geprüft hatte. Er hatte nicht das geringste gegen sie; er teilte viele, wenn auch nicht alle ihrer Ansichten. Auf jeden Fall, dort, wo sie echt war, ihre Lebenseinstellung. Aber er wußte, daß ein einziger angesehener Bürger aus dem Mittelstand mehr für seine Ziele erreichen konnte als ein Dutzend begeisterter Hippies. Weil er den nötigen Einfluß besaß. Und gerade diese Leute rannten regelmäßig davon, wenn sie Polizei auftauchen sahen. Fürchteten sie, als Revolutionäre zu gelten?
Sie traten trotzdem in eine sachliche Diskussion über Protestmaßnahmen ein. Schließlich einigte man sich auf die Anmeldung eines Protestmarsches über die Zufahrtstraßen des Hafens, zwei Stunden nach der Eröffnung. Die Kundgebung wäre nach rund vier Stunden relativ friedlich ausgegangen, hätte nicht ein Jugendlicher aus dem
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