Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Deutschlandflug

Titel: Deutschlandflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
abschweifenden Gedanken völlig unerwartet, öffnete sich die knarrende Tür – ein junger Mann quetschte sich hindurch, in hautengen Jeans, eine hellblaue Stoffjacke mit aufgesteppten Taschen lose um die Schultern gehängt … Student oder gebildeter Aushilfsarbeiter, der sich sein Studiengeld verdienen muß, taxierte sie. Blaue, leicht introvertiert blickende Augen. Und einen, o lala, Körper, nicht übel …
    »Hier können Sie lange auf Bedienung warten!«
    Sie sprach ihn über den schäbigen Brotkorb, die verformte Kerze mit dem riesigen schwarzgeblakten Docht hin an.
    Er mochte ungefähr 28, höchstens 30 sein; sie schätzte ihn nüchtern ein. Sie schenkte sich nach.
    »Wenn wir alle Körbe zusammenschütten, reicht es für zwei.« Seine Stimme war angenehm, aber nicht so sanft, daß man einen sensiblen, morgens mutlosen Jüngling zu befürchten hatte.
    »Ich kann Ihnen einen recht brauchbaren Rheinhessen anbieten, wenn auch nicht mehr allzu viel.«
    Fragend, mit demonstrativ heraufgezogenen Augenbrauen, mit herausfordernd leicht geöffnetem Mund sah sie ihn an.
    »Fein! Ein wenig Stimmung vor dieser Scheißvorlesung kann nicht schaden! Ich komme rüber. Okay?«
    Richtig eingeschätzt; sie lächelte sich selber zu.
    »Okay. Sie müssen mit meinem Glas vorliebnehmen. Was studiert man denn so, heutzutage?«
    »Philosophie. Um elf Uhr dreißig, in Mainz.«
    »O weh! Ich habe mich damals mehr in der Chemie umgesehen. Mögen Sie das, Philosophie?«
    Er kam herüber, nicht übermäßig schüchtern; derartige Selbstverständlichkeiten mochte sie.
    »Philosophie im alten Sinne – die ist längst ausgestorben.« Er freute sich offensichtlich, daß sie Interesse zeigte. Er hatte ein scharfes Profil; Nick Knatterton, dachte sie. Schon Andeutungen einer nahenden Glatze. Sehr muskulös. Keine Spur von Wohlstandsspeck, woher auch? »Heutzutage wird nur noch über die philosophischen Systeme gearbeitet. Etwas wirklich Neues ist nicht da. Es ist ähnlich wie in der alten Gruppe 47: Walser bespricht Böll, Böll lobt Walser und Johnson; Johnson bespricht Böll und lobt Werner Richter; aber Werner Richter kriegt trotzdem nichts Vernünftiges mehr zustande.«
    Er sah sie triumphheischend an; sie lächelte kurz.
    »Und Ihre Philosophie?« Sie schenkte das Glas bis zum Rand voll und schob es ihm zu. »Wenn Sie schon aus meinem Glas trinken – wie heißen Sie?«
    »Heute geht es nur noch um den Verfall der Philosophie. Jürgen Habermas referiert über die Kritik der Kritischen Theorie, Martin Heidegger über › Was ist ist‹. Auch von der Quantenphysik der Weltpolitik ist die Rede, bei Carl Friedrich natürlich. Oh, wie ich diese Kleingeister hasse! Endlich wieder einen Spinoza, einen Cartesius! Ich denke, daher bin ich! Der großartigste Satz der Weltphilosophie von Plato bis Jaspers!«
    »Wirklich?«
    »Echt! Ich heiße Ronald – nennen Sie mich Ron. Prost! Und … Sie?«
    »Ich heiße Rut!« sagte sie. »Nenn mich Rut!«
    Er verneigte sich kurz, hob ihr das Glas entgegen, setzte es ab, begann, an einem Brötchen zu knabbern, schob es zurück in den ausgefransten Korb. »Hör zu, Rut, die ganze Philosophie der Neuzeit ist nichts als Pseudo. Talmi. Scheiße.« Er trank, mit einem riesigen gulp, das ganze Glas aus. »Muß ich unbedingt zu dieser Scheiß-Pseudo-Talmi-Vorlesung?«
    »Junge!« sagte sie anerkennend. »Du spurst aber schnell! Das hat man nicht oft!« Sie fühlte sich herrlich entspannt und angespannt gleichzeitig. Genauer: seelisch entspannt, körperlich angezogen. Ein solcher Glücksfall passierte nicht alle Tage. Sie sendeten auf der gleichen Frequenz.
    »Du mußt nicht!« sagte sie. »Du darfst.«
    »Was immer ich will?« Seine blauen Augen leuchteten auf, als würden sie von innen entzündet. »Sag mal das letzte entscheidende Wort. Ich trau' mich nicht!«
    Sie sah über den Strom, auf dem Barkassen, Schleppdampfer, Motorboote von Bingen nach Bonn, von Koblenz nach Mainz zuckelten. Jetzt sah sie auch den Reiher wieder. Er schwang sich träge aus dem Uferschilf auf und versuchte, das gegenüberliegende Ufer zu erreichen. Er flog so schwerfällig, als führe der Altvater Rhein genügend Fischnahrung, ihn bis zur Flugunfähigkeit zu mästen. Sie dachte daran, wie Chris am Spätnachmittag, eine rote Sonne im Abenddunst vor dem Schlafzimmerfenster, bei Karin sitzen, liegen, sonst was tun würde, und wie sie die ganze Nacht daran gearbeitet hatte, ihm dieses Pläsier zu verderben. Und wenn schon, dann

Weitere Kostenlose Bücher