Deutschlehrerin
Anschließend erzählte er ihr mit ruhiger Stimme die Geschichte von seiner Schäferhündin Senta, die vor ein paar Wochen im Hühnergehege geworfen hatte, sodass Welpen und Küken nebeneinander an ihrem Bauch schliefen, wenn sie auf der Seite lag. Nach einer Weile beruhigte sich das Mädchen und nannte ihm stockend und leise seinen Namen: Es hieß Anna und war vierzehn Jahre alt. Im Stall hätte es die sechs Kühe melken sollen, der Rest der Familie war bei der Heumahd, der Mann, der sie beim Einstreuen des Futters ganz plötzlich überraschte, war ein verheirateter Bauer aus der Nachbarschaft, der sie bereits seit einiger Zeit mit begierigen Blicken verfolgt hatte. Richard ging mit Anna in den Stall und half ihr beim Füttern, Melken und Ausmisten, nach Hause kam er beinahe zwei Stunden zu spät. Zwei Tage später kam er wieder und brachte ihr einen Welpen aus dem Wurf seiner Schäferhündin mit, den er ihr schenkte. »Er wird auf dich aufpassen«, sagte er. Die Eltern luden ihn zum Essen ein und so saß er in der Stube und erzählte, dass er und drei andere junge Männer in zwei Wochen in Hamburg das Schiff nach New York besteigen würden. Viele Fragen wurden ihm gestellt, warum er sich dazu entschlossen hätte auszuwandern und was er sich dort erwartete, Anna stellte ihm nur eine Frage: Wie sein Name dort ausgesprochen werde. Beim Abschied fragte er sie, wie denn der Hund heißen solle, sie antwortete: »Richie!«, und er musste unwillkürlich lachen.
Am Tag seiner Abreise wurde Richard genau zwanzig Jahre alt. Unzählige Menschen, fast das gesamte Dorf, standen bei den vier jungen Männern, um sie zu verabschieden, um ihnen mit geweihtem Wasser ein Kreuz auf die Stirn zu machen und ihnen Gottes Segen zu wünschen. Die Familien der vier weinten, als sie sich zu Fuß auf den Weg machten, um die Bahn in Wegscheid, die sie nach Passau und dann weiter nach Hamburg bringen sollte, zu erreichen. Sie ließen den Marktplatz hinter sich und gingen querfeldein über Wiesen und Felder, mit ihren kleinen Koffern in der Hand. Als Richard ein Bellen hörte und er sich zur Seite wandte, sah er die barfüßige Anna durch das hohe Gras auf ihn zulaufen, hinter ihr der Welpe. Mit hochrotem, erhitztem Gesicht kam sie bei ihm an, drückte ihm ein kleines Muttergottesbild in die Hand und sagte: »Sie soll dich beschützen«, mehr nicht, drehte sich um und lief durch das hohe Gras davon, der Welpe hinter ihr her. Er sah ihr nach und sollte wochenlang das Bild nicht mehr aus dem Kopf bekommen.
In Milwaukee angekommen, fand er sofort Arbeit als Hausmeister in einem Waisenhaus, auch eine Unterkunft wurde ihm zur Verfügung gestellt. Von Anfang an verspürte Richard in dieser Stadt eine Art Leichtigkeit und Glück, die er in der Heimat nicht gekannt hatte. Seine Freizeit verbrachte er mit anderen ausgewanderten Mühlviertlern, er lernte im Lake Michigan schwimmen und feierte ausgiebig jeden Feiertag und jedes Wochenende.
Ein Jahr später fand er Arbeit in einer großen Schusterei, er konnte nun endlich seinen erlernten Beruf ausüben und genug verdienen, um sich eine Existenz aufzubauen: Er zog in seine eigene Wohnung. Die Nonnen und Kinder im Waisenhaus verließ er schweren Herzens, er hatte sie alle lieb gewonnen und besuchte sie noch lange Zeit.
MATHILDA UND XAVER
Im ersten Sommer machte Xaver ein Praktikum in einem deutschen Verlag und Mathilda arbeitete als Kellnerin in Wien. Sie hielt die Trennung kaum aus und vermisste ihn wahnsinnig, in ihrer Freizeit hing sie schwermütig in der Wohnung herum, anstatt schwimmen zu gehen oder sich mit Freundinnen zu treffen. Ständig dachte sie nur an ihn, was er wohl machte, wen er traf, wen er anlächelte, ob er sie vermisste. Karin nannte sie besessen.
Schließlich bat sie ihren Arbeitgeber um zwei freie Tage hintereinander und setzte sich in den Zug, ohne Xaver Bescheid zu geben, denn sie wollte ihn überraschen. Direkt vom Bahnhof marschierte sie zum Verlag und wartete vor der Eingangstür auf ihn. Als er herauskam und sie sah, war seine Freude sichtlich groß, er eilte auf sie zu und umarmte sie lange und fest, sie war so gerührt, dass sie ihre Tränen nicht zurückhalten konnte, die er schließlich wegküsste. So überschwänglich hatte Mathilda ihn noch nie erlebt, wenn sie zu zweit waren. Die zwei gemeinsamen Tage genoss sie in vollen Zügen, sie vergingen wie im Flug. Sie mochte es, mit Xaver alleine zu sein, er verhielt sich, wenn keine Bekannten dabei waren, im Allgemeinen
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