Deutschlehrerin
waren, sahen mehr als abgenützt aus. Noch nie zuvor hatte Mathilda ein dermaßen geräumiges Haus gesehen, jeder Raum hatte ungefähr dreißig Quadratmeter, Keller und Dachboden waren ebenfalls riesig. Sie fühlte sich wohl in diesem alten Haus, sie wäre gerne hier aufgewachsen, dachte sie, inmitten all der Natur und in diesen großen Zimmern, in denen man sich nicht gegenseitig auf die Nerven ging.
In der Nacht kam Xaver zu ihr ins Zimmer geschlichen – denn Inge hatte sie in zwei getrennten Zimmern untergebracht, was er mit einem Augenrollen kommentiert hatte – und erzählte ihr flüsternd, warum er sich in Schuroth nicht wohlfühlte. Er konnte und wollte hier nicht leben, sagte er, und er wusste, dass sich seine Mutter genau das von ihm erwartete. Und all seine verstorbenen Ahnen auch.
XAVER ERZÄHLT MATHILDA EINE GESCHICHTE
Fünf Jahre später, 1914, begann in Europa der große Krieg zu toben und in den Vereinigten Staaten wurden die Einwanderer aus der Habsburgermonarchie und dem Deutschen Reich nun wirklich zu Fremden. Richard und alle Ausgewanderten standen viele Ängste und Sorgen um ihre Familien in der Heimat aus. Ein Jahr danach, im Sommer 1915, schwebte Richard aber plötzlich im siebten Himmel: Er hatte eine wunderschöne Frau kennengelernt und sich augenblicklich in sie verliebt. Dorothy O’Flaherty stand im Schaufenster eines kleinen Schuhladens in der Wisconsin Avenue, der neu eröffnet werden sollte, und dekorierte es, als Richard vorbeiging und sich ihre Blicke trafen. Sie gingen noch am selben Abend gemeinsam essen und trafen sich von diesem Tag an regelmäßig. Ihr Vater war Ire, dessen Eltern eingewandert waren, ihre vor Kurzem verstorbene Mutter war halb Indianerin, halb Polin gewesen, bisher hatte sie mit der Familie in Chicago gelebt. Ihr Vater, ein begnadeter Schuhhersteller, wollte nach dem Tod seiner jahrelang schwer kranken Frau ein neues Leben beginnen, brach alles in Chicago ab und zog mit seinen vier Töchtern nach Milwaukee, wo er sich selbständig machte und einen Schuhladen eröffnete, wozu er bisher nicht den Mut gefunden hatte.
Das Geschäft lief von Anfang an gut, wie auch die Beziehung zwischen Richard und Dorothy, er spürte, dass er sie wirklich liebte und mit ihr glücklich werden konnte. Sein Freundeskreis kam ihm mit Unverständnis entgegen, Richard handelte gegen das ungeschriebene Gesetz, dass Auswanderer entweder die Ehefrau (oder den Ehemann) aus der Heimat mitbrachten oder sich die Ehefrau (oder den Ehemann) unter den Auswanderern (aus derselben Gegend) suchten. Es war ihm gleichgültig, er liebte die Gegenwart der fröhlichen, ständig plappernden Schwestern und ihren besonnenen, heiteren Vater, er liebte den liebevollen, freundlichen, vertrauensvollen Umgang in dieser Familie, und ganz besonders liebte er die älteste Tochter. Was Richard als Wermutstropfen empfand, war, dass er mit Dorothy nicht in seiner Muttersprache sprechen konnte, bestimmte Dinge, so hatte er das Gefühl, konnte er nicht so ausdrücken und vermitteln, wie er es gerne getan hätte. Was er hingegen als befreiend empfand, war, dass Dorothy liberal eingestellt und nicht so streng katholisch war wie die jungen Frauen in seinem Heimatdorf und sich gewissen Zwängen nicht unterwarf; sie gab sich Richard das erste Mal nach einem Picknick im Sommer 1917 hin.
Sie unternahmen viel gemeinsam, und im Frühling 1918 begann man auch allmählich zaghaft über die Zukunft zu sprechen, bis im November 1918 ein verzweifelter Brief von Richards Schwester eintraf, der alles veränderte. In seinen Gedanken hatte sich Richard zwar oft ein Wiedersehen mit seiner Familie ausgemalt, aber unter ganz anderen Umständen, als es dann der Fall sein sollte. Er wollte sich mit Dorothy verloben, sie heiraten und die Flitterwochen in Europa verbringen, er wollte ihr unbedingt den Ort zeigen, an dem er aufgewachsen war.
Seine Schwester berichtete ihm von schrecklichen Ereignissen: Fünf russische, grölende, betrunkene Soldaten waren in das alte Haus eingedrungen, hatten die bettlägerige Mutter und den ältesten Sohn Josef bewusstlos geschlagen, Fenster und Tür verbarrikadiert und das alte Haus niedergebrannt. Der Vater war währenddessen mit den anderen Kindern im Wald gewesen, um Brennholz zu schlagen. Das Haus aus Stein war vollkommen ausgebrannt, die Leichen verkohlt, die restliche Familie hauste im Schuppen und hatte kaum zu essen. Richard verabschiedete sich von Dorothy und ihrer Familie, versprach seine
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