Deutschlehrerin
gewischt habe. Eigentlich war deine Mutter kurios.
Mathilda: Nicht kurios, schrecklich. Alles zu Hause war schrecklich für mich. Ich habe dich oft um deine Mutter und überhaupt um deine Kindheit auf dem Land beneidet. Wie ist sie eigentlich gestorben?
Xaver: Im Krankenhaus, an Lungenentzündung. Ich bin mit dem Auto von Berlin nach Wels gefahren, bin aber um eine Stunde zu spät gekommen.
Mathilda: Ich finde das tragisch. Sie hat so darum gekämpft, das Haus und diese große Familie irgendwie am Leben zu erhalten und was bleibt von ihrem Kampf übrig? Ein einsamer Tod im Krankenhaus.
Xaver: Ich bin noch übrig.
Mathilda: Du wirst aber keine Kinder mehr bekommen, die das Haus nach dir weiterführen. Oder?
MATHILDA
Die Verwandten schrieben ihr regelmäßig Briefe zu Weihnachten und zu ihrem Geburtstag, ab und zu antwortete sie. Zu ihrer Erstkommunion tauchten überraschend und uneingeladen Oma, Onkel und Tante auf, und obwohl sie das Essen im Gasthaus bezahlten, sprach die Mutter kein einziges Wort mit ihnen. Mathilda litt den ganzen Tag unter Schweißausbrüchen, weil sie glaubte, ihre Verwandten aus Dankbarkeit krampfhaft unterhalten zu müssen und ihr nach ein paar Minuten bereits der Gesprächsstoff ausging; ihr schweigsamer Vater und ihr Bruder waren ihr keine Hilfe. Zu ihrer Firmung und zur Matura bekam sie von der Tante einen Brief samt Geld geschickt, danach hörte sie jahrelang nichts mehr von ihnen.
Am wohlsten fühlte sich Mathilda, wenn sie lesen konnte, oft lag sie stundenlang in ihrem Bett und verschlang Bücher. Sie holte sich den Lesestoff aus der Stadtbücherei, und manchmal ging ihr Vater mit ihr in eine Buchhandlung und kaufte ihr ein Buch.
Mit fünfzehn hatte sie zwanzig Bücher über ihrem Bett auf dem Regal stehen, darunter Dumas’ Der Graf von Monte Christo , das letzte Buch, das ihr der Vater geschenkt hatte, bevor er ausgezogen war. Eines Tages, sie besuchte seit einem halben Jahr das Oberstufenrealgymnasium, was sie mithilfe ihres Vaters durchgesetzt hatte, verließ dieser die Familie wegen einer anderen Frau. Die Mutter war außer sich und brach zusammen, wenn sie ihn auch nicht mehr liebte, so sollte ihn doch auch keine andere Frau haben. Ab diesem Zeitpunkt ließ sie sich völlig gehen, sie wurde verbittert, und Mathilda gegenüber wurde sie noch gehässiger und bösartiger.
Wenn sie von der Schule nach Hause kam, musste sie stets auf alles gefasst sein, und das Erste, was tatsächlich geschah, war, dass alle ihre Bücher verschwunden waren, kein einziges befand sich mehr im Regal. Die Knie wurden ihr weich und sie musste sich aufs Bett setzen, sonst wäre sie umgekippt, ihr Atem ging flach und schnell und sie versuchte sich zu beruhigen. Das erste Mal griff sie ihre Mutter lautstark an, diese stritt alles ab, Mathilda hätte sie vermutlich verliehen und das vergessen, oder Stefan hätte sie genommen, erwiderte sie grinsend. Ein paar Tage später fand Mathilda im Holzofen, der im Wohnzimmer stand, kleine Fetzen von Buchseiten und eine Menge Asche, sie lag auf dem Bett und glaubte ersticken zu müssen vor lauter Hass, gleichzeitig wusste sie, sie konnte gar nichts tun, sie war nicht volljährig und ihr ausgeliefert. Da begann sie die Tage zu zählen bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag. Bücher kaufte sie keine mehr, sondern lieh sie alle in der Stadtbücherei aus und versteckte sie jede Nacht an einem anderen Ort.
Der Vater war ein ruhiger, introvertierter Mensch, im Grunde wusste Mathilda nie, was er dachte, fühlte oder was er vom Leben eigentlich erwartete, er war bescheiden und stellte keine Ansprüche, brauchte keinen Platz. Oft war es, als wäre er gar nicht anwesend, obwohl er in der Küche am Tisch saß und sich Speck in dünnen Scheiben abschnitt oder vom Rand des Sofas aus die Nachrichten im Fernsehen verfolgte. Es war ihm genug, eine Frau und zwei Kinder zu haben und in einer kleinen Wohnung zu leben, er wollte nicht mehr, ihm fehlte jeder Ehrgeiz und vermutlich auch die Intelligenz. Nie sah ihn Mathilda eine Zeitung lesen oder ein Wort schreiben, und allmählich verdichtete sich ihr Verdacht, dass ihr Vater Analphabet war. Als Bauarbeiter war er zufrieden, doch selbst wollte er für seine Familie kein Haus bauen, er scheute die jahrzehntelange Abhängigkeit von einer Bank. Vielleicht hatte er aber nur Angst vor dem umfangreichen Kreditvertrag, den er dann hätte lesen müssen vor einem jungen Bankangestellten, der seiner Meinung nach wie alle anderen Anzugträger
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