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Deutschlehrerin

Deutschlehrerin

Titel: Deutschlehrerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Taschler
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ruhiger, er spielte nicht den lässigen Intellektuellen und war ihr gegenüber aufmerksamer.
    Erst im Frühling darauf, als sie bereits ein Jahr lang ein Paar waren, machten sie beide eine Reise nach Meran, wo sie ein Zimmer in einer billigen Pension gebucht hatten. Sie schliefen lange, frühstückten ausgiebig, wanderten in der Stadt oder außerhalb herum, sonnten sich in der Frühlingssonne, die bereits viel stärker schien als in Wien, und aßen spät am Abend ausgiebig in einer Trattoria.
    Am letzten Abend bummelten sie durch die Stadt und schlossen sich dann mehreren Leuten an, die in den Kursaal strömten. Auf einem Schild lasen sie die Vorankündigung, ein lokales Orchester würde Werke von Vivaldi, Schostakowitsch und anderen spielen, sie kauften sich Karten und setzten sich in eine der hintersten Reihen.
    Die gewaltige Musik berührte Mathilda von Anfang an und riss sie in einem Strudel überbordender Gefühle mit, ihr Herz quoll über vor Sentimentalität. Sie dachte an ihre vom Leben enttäuschte Mutter, die in ihrer Freizeit nur eines schaffte: in der engen, muffigen Wohnung vor dem Fernseher zu sitzen und Essen in sich hineinzustopfen; an ihren Vater im nördlichen Deutschland, der mit dem Wachtturm in der Hand, in dem er nicht einmal lesen konnte, an der Straße stand, nur damit er irgendwo dazugehörte. Es war das erste Mal, dass sie tiefes Mitleid mit ihren Eltern empfinden konnte und sich mit ihnen ausgesöhnt fühlte, doch auf einmal blitzte ein Bild des ungeliebten und verschüchterten Mädchens, das sie gewesen war, hervor, und ohne dass sie es aufhalten konnte, zogen weitere Bilder aus ihrer Kindheit vorbei: Ihre Mutter, die sie mit dem Teppichklopfer schlug, weil sie wieder einmal ins Bett genässt hatte, die ewig langen Sonntage, die sie mit ihrem Bruder im verdreckten Hof herumhing, während sie ihre Mutter aus dem geöffneten Fenster mit dem Vater herumschreien hörten, die vielen quälenden Stunden, die sie auf ihrem Bett lag, auf die niedrige Decke starrte und in denen sie die Minuten bis zum Abend zählte, wenn sie endlich schlafen gehen konnte und wenn wieder ein Tag zu Ende gegangen war, ein Tag, der sie dem Erwachsensein näher brachte.
    Aus dem Mitleid wurde Selbstmitleid – am liebsten hätte sie dieses kleine Mädchen in die Arme genommen und getröstet, es war noch so fest in ihr verwurzelt –, bis die Musik etwas anderes in ihr zu bewirken begann. Sie war so mächtig, drang in sie ein, nahm vollkommen von ihr Besitz und berauschte sie, als wäre sie eine Droge.
    Ein nie gekanntes Gefühl von Kraft und Lebensfreude durchströmte sie, sie fühlte sich jung, stark und in der Lage, alles zu schaffen, was sie sich vornahm. Ihre Zukunft sah sie leuchtend vor sich, ein glückliches, erfülltes Leben mit Xaver an ihrer Seite und mit niemandem sonst, er war die Liebe ihres Lebens, alles würde sie tun, um ihn glücklich zu machen, sie hatte Energie für zwei. Sie drückte Xavers Hand und ihr ganzer Körper bebte.
    Mathilda wünschte, die Musik würde nie enden, und vor allem wünschte sie sich, dass das Gefühl der Stärke sie nie mehr verlassen würde. Sie zehrte noch lange davon, doch natürlich verblasste es im Laufe der Jahre. Doch jedes Mal, wenn sie an das Konzert dachte, durchrieselte sie es wieder warm.

MATHILDA ERZÄHLT XAVER EINE GESCHICHTE
    Er ist Künstler.
    Seine Hauptbeschäftigung ist es, zu malen, zumeist sind es abstrakte Aquarelle, denn er verabscheut kräftige, leuchtende Farben. An den Tagen, an denen er intensiv malt, braucht er weniger Medikamente. Beim Verkauf muss ich ihm helfen, den kann er nicht übernehmen, er tut sich schwer mit anderen Menschen. Ich tue es gerne, verscherbele die riesigen Leinwände unter Kollegen und Freunden, die sich freuen, mir einen Gefallen tun zu können. Manchmal knetet er Figuren aus Ton, die entweder eine Frau oder ein ineinander verschlungenes Pärchen darstellen. Seine ganze Wohnung ist voll mit diesen sinnlichen Figuren, und einige habe ich in meinem Haus stehen. Auch mit Kalligrafie beschäftigt er sich gerne, zurzeit ist er dabei, den gesamten Faust I in Unzialen abzuschreiben, und dafür besorgte ich ihm ein gebundenes, liniertes Buch und eine Bandzugfeder. Er setzt sich konsequent jeden Vormittag an seinen Schreibtisch und schreibt Wort für Wort mithilfe einer Vorlage ab, seine Buchstaben sind regelmäßig und wunderschön. Das Kunstwerk soll nach Fertigstellung an einen Trödlerladen verkauft werden.
    Xaver: Der Liebhaber

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