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Deutschlehrerin

Deutschlehrerin

Titel: Deutschlehrerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Taschler
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nur ein Schnösel war. Wenn die Mutter eine liebevolle, sanfte Frau gewesen wäre und den Haushalt ordentlicher geführt hätte, wäre er der glücklichste Mensch der Welt gewesen.
    Als ihn die Baufirma kündigte, bei der er an die zwanzig Jahre lang gearbeitet hatte, verlor er mit der Arbeitsstelle auch seine Arbeitsmoral. Er konnte in keiner Firma mehr für längere Zeit Fuß fassen, war oft arbeitslos und trank viel. Entweder schwiegen sich die Eltern an oder die Mutter schrie auf den Vater ein, der dann einfach die Wohnung verließ. Sie machten sich gegenseitig verantwortlich für ihr missglücktes Leben, jeder auf seine Weise, sie lautstark, er im inneren Exil, mit vorwurfsvollem Blick.
    Und eines Tages lernte Mathildas stiller Vater die sanfte Eva kennen und verließ die Familie schon ein paar Wochen darauf. Mathilda konnte es ihm nicht einmal verdenken, denn die Mutter war in ihren Augen eine furchtbare Person, und unter keinen Umständen wollte sie auch nur annähernd so werden wie sie. In ihren Augen war die Mutter die einzig Schuldige, dass der Vater die Familie verlassen hatte, sie gönnte ihm sogar, dass er neues Glück gefunden hatte, und empfand Schadenfreude gegenüber der Mutter.
    Ein halbes Jahr später, Mathilda ging den Weg von der Schule nach Hause, sah sie ihren Vater an einer Straßenecke stehen, mit der Zeitschrift Der Wachtturm in der Hand. Sie war entsetzt und sprach ihn an. Das Ganze war ihm offensichtlich peinlich, doch gab er ohne Umschweife zu: Eva war eine Zeugin Jehovas, und ihr zuliebe war er der Sekte beigetreten. Mathilda konnte es kaum fassen, seine Weichheit und Nachgiebigkeit hatten ihn in die Arme einer Sekte getrieben. Sie lief weinend nach Hause.
    Ihr Vater wanderte mit Eva nach Norddeutschland aus und fing ein neues Leben an. Mathilda und Stefan wussten nicht, in welcher Stadt er nun in den Straßen stand, mit dem Wachtturm in der Hand. Zu Weihnachten erhielten sie immer eine Karte, aber sie konnten erkennen, dass Eva sie geschrieben haben musste und nur die Unterschrift von ihm stammte.
    Für ihre Diplomprüfung las Mathilda unter anderem über das Leben und die Werke Theodor Storms, dessen Schimmelreiter und Aquis submersus sie so liebte, dabei stellte sie sich vor, dass ihr Vater in Husum, der Geburtsstadt Storms, an einer Kreuzung stand und den Weltuntergang predigte. Und einmal sah sie in einem Albtraum ihren Vater auf einem Deich stehen, es war dunkelste Nacht, das Meer toste und brauste, der Schimmelreiter galoppierte an ihm vorbei, streifte ihn, ihr Vater taumelte und fiel in die Wellen.

XAVER ERZÄHLT MATHILDA EINE GESCHICHTE
    Im Frühling 1908 wanderte der zwanzigjährige Richard Sand mit drei weiteren jungen Männern aus dem Dorf nach Amerika aus. Sie folgten vielen anderen jungen Leuten und ganzen Familien, die in den Jahren zuvor bereits ausgewandert waren und den Zurückgebliebenen schwärmerische Briefe geschrieben hatten, in denen sie die Vereinigten Staaten wie eine Art Schlaraffenland schilderten. Die meisten aus dem Dorf wanderten in die Stadt Milwaukee im Bundesstaat Wisconsin aus, es war eine >Tradition, die der erste Auswanderer begründet hatte, der sein Ziel nach der klimatischen Ähnlichkeit mit der einstigen Heimat gewählt hatte, und die nun der Einfachheit halber fortgesetzt wurde, dort lebten bereits viele Mühlviertler, die den Ankommenden einiges erleichterten. Es gab in dieser Stadt und in der Umgebung Arbeit, jede Menge, man wurde dafür gerecht entlohnt, es gab genug Grund und Boden, den man billig kaufen konnte, man hatte Spaß in der Freizeit, genauer gesagt im Klub Eichenlaub!
    Kurz vor seiner Abreise ließ sich Richard Sand von einem Schneider im Nachbardorf einen Anzug nähen, um damit die große Reise antreten zu können. Als er auf dem Nachhauseweg vom Schneider an einem kleinen Hof am Waldesrand vorbeikam, hörte er erstickte Schreie und ein Keuchen. Er ging in den finsteren Stall hinein und konnte schließlich, nachdem sich seine Augen an das Dunkel gewöhnt hatten, einen Mann von einem sehr jungen Mädchen wegreißen, seine Hose hing ihm bei den Knien, als Richard ihn ins Freie zerrte und verprügelte. Er überhäufte ihn mit Drohungen und verjagte ihn. Das Mädchen hockte mit ihrem zerrissenen Kittel im Stall und konnte nicht aufhören zu schluchzen und zu zittern, sie war völlig außer sich vor Entsetzen. Richard hob sie hoch, trug sie aus dem Stall, setzte sie in das von der Abendsonne warme Gras und hängte ihr seine Jacke um.

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