Deutschlehrerin
zum Geschichtenhören und Erzählen, zum Fantasieren.
Xaver wollte zwar mit anderen Frauen schlafen, ihre Geschichten hören, aber mehr nicht, von sich erzählen wollte er nur Mathilda und zusammenleben wollte er nur mit Mathilda, denn nur von ihr fühlte er sich richtig verstanden. Seine liebsten Tageszeiten waren der Abend und die angehende Nacht, wenn Mathildas Stimme leise, ruhig und nicht mehr so schrill war, wenn sie gemeinsam kochten, zu Abend aßen, wenn es warm war auf dem Balkon, wenn sie gemeinsam im Arbeitszimmer arbeiteten, er an seinem jeweiligen Roman, sie an den Stundenvorbereitungen, wenn sie gemeinsam auf dem Sofa lagen und sich gegenseitig von ihrem Tag erzählten.
XAVER ERZÄHLT MATHILDAS GESCHICHTE NEU
Xaver: Ich werde dir nicht nur einen passenden Schluss für deine Geschichte erzählen, ich werde dir die ganze Geschichte neu erzählen, sie soll Die Deutschlehrerin heißen. Du kannst mir gerne dabei helfen und etwas ergänzen, wenn du willst.
Mathilda: Einverstanden.
Xaver: Mehr als sechzehn Jahre lang sind sie ein Paar, der Schriftsteller und die Deutschlehrerin, und in den Augen ihrer Freunde das Traumpaar schlechthin. Sie verstehen sich gut, sie lieben Bücher, sie reden gerne und sie erzählen sich täglich Geschichten, manchmal spielen sie sie auch. Die einzige Schwierigkeit in dieser Beziehung ist, dass sich der Schriftsteller nach Erfolg sehnt, der ausbleibt, und sich die Deutschlehrerin ein Kind wünscht, das ihr aber der Schriftsteller aus Existenzängsten verwehrt. Ansonsten sind sie glücklich, zumindest glauben sie es.
Mathilda: Ihr Glück liegt in der Abhängigkeit voneinander: Der Schriftsteller braucht die Deutschlehrerin, um überhaupt leben zu können, im finanziellen Sinne, denn sie bezahlt den Großteil der Rechnungen, und die Deutschlehrerin braucht den Schriftsteller ebenfalls, um überhaupt leben zu können, im emotionalen Sinne, denn sie liebt ihn abgöttisch.
Xaver: Die Deutschlehrerin hat so viele Komplexe, dass sie nicht sieht, dass der Schriftsteller sie wirklich liebt, und sich einredet, dass er sie ausnützt. Eines Tages hat der Schriftsteller die zündende Idee für eine Jugendbuchtrilogie, die er dann innerhalb von eineinhalb Jahren niederschreibt.
Mathilda: Wie trügerisch die Erinnerung ist. Die Deutschlehrerin liefert ihm die zündende Idee für eine Jugendbuchtrilogie, die sie dann gemeinsam innerhalb von eineinhalb Jahren niederschreiben.
Xaver: Ein großer Verlag nimmt die Trilogie an und über Nacht wird aus dem erfolglosen Schriftsteller ein überaus erfolgreicher, der in aller Munde ist.
Mathilda: Der Kreislauf der Abhängigkeit ist somit durchbrochen und der Schriftsteller verlässt eines Morgens die Deutschlehrerin, ohne sich zu verabschieden. Diese erleidet einen schweren Nervenzusammenbruch, als sie kurze Zeit darauf erfährt, dass er eine wohlhabende Hotelierstochter aus der Promiszene heiratet, die von ihm schwanger sein soll.
Xaver: Der Schriftsteller verliebt sich in eine andere Frau, oder zumindest glaubt er verliebt zu sein, und verlässt die Deutschlehrerin. Er wird es bereuen, sein ganzes Leben lang. Sein Glück mit der neuen Frau ist nur von kurzer Dauer: der eineinhalbjährige Sohn Jakob wird entführt und nie wieder gefunden. Seine Ehe geht darauf in die Brüche, da sich seine Frau von der Tragödie nicht erholt, seine weiteren Romane sind wieder erfolglos. Er lebt in Berlin, kann nicht schreiben, trinkt viel zu viel, hat eine unglückliche Beziehung nach der anderen und stürzt immer mehr ab. Nach vielen Jahren, er ist bereits über fünfzig, stirbt seine Mutter und er ergreift diese Chance, ein neues Leben anzufangen, er zieht in sein Elternhaus ein, beginnt es zu renovieren und fängt endlich wieder einmal einen Roman an. Aber glücklich ist er nicht, er verliert sich in Tagträumen über die Vergangenheit und über den Sinn des Lebens.
Mathilda: Er suhlt sich in seinem Selbstmitleid.
Xaver: Die Deutschlehrerin zieht in eine andere Stadt, um vergessen zu können, was ihr aber nicht gelingt, sie ist eine tief verletzte Frau und schafft es nicht, eine längere Beziehung zu haben. Sie suhlt sich in ihrem Selbstmitleid. Ihr Leben verläuft ruhig und einsam und eines Tages erhält sie die Diagnose im Krankenhaus, dass sie an einer unheilbaren Krankheit leidet und nicht mehr lange zu leben hat, höchstens einige Monate. Einmal noch will die Deutschlehrerin den Schriftsteller sehen, bevor sie stirbt. Sie hat mit ihm eine Rechnung
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