Deutschlehrerin
entführt!
Mathilda: Das Kind seiner Frau wurde aus dem Garten seiner Frau entführt. Die Deutschlehrerin erkennt an der vertrauten Mimik, dass er eindeutig lügt. Ihr kann er nichts vormachen. Sie sieht seinen starren Blick, sie sieht, wie sein rechtes Augenlid zuckt, seine Pupillen unruhig hin- und herrollen. Und sie stellt sich die Frage: Welche Rolle spielt der Schriftsteller in der Sache? Sagt er die Wahrheit?
Xaver: Hör auf, bitte, Mathilda, hör endlich auf!! Du weißt nicht, was ich durchgemacht habe!
Mathilda: Soll ich dir erzählen, was ich glaube, dass passiert ist? Oder möchtest du?
MATHILDA UND XAVER
Mit den Jahren kamen auch Probleme, die am Anfang ihrer Beziehung noch nicht vorhanden gewesen waren. In erster Linie waren sie finanzieller Natur, denn als Xaver auf die dreißig zuging, stellte seine Mutter die monatlichen Zahlungen an ihn ein und die beiden waren auf sich gestellt. Da Mathilda eine volle Lehrverpflichtung hatte und auch noch Nachhilfeunterricht gab, verdiente sie nicht schlecht und konnte mühelos alle Rechnungen bezahlen, sie bezahlte Miete, Lebensmittel, Urlaube. Das erzeugte ein Ungleichgewicht in ihrer Beziehung, das beide verabscheuten, am meisten Mathilda selbst, ihr kam vor, Xaver entwickelte aufgrund seiner finanziellen Abhängigkeit Minderwertigkeitskomplexe und darauf aufbauend ein grobes und unausgeglichenes Verhalten ihr gegenüber. Er versuchte, ihr auf subtile Art vorzuhalten, sie, die biedere Deutschlehrerin, sei zwar in der Lage, für die Lebenshaltungskosten aufzukommen, er, der kreative Schriftsteller, sei aber der wesentlich Begabtere, Intellektuellere und obendrein Wichtigere für die Menschheit, denn er hinterließ dieser etwas.
Es wurden Spielchen gespielt: Wenn Mathilda ein Kinofilm gefiel, gefiel er Xaver natürlich nicht und er lästerte darüber, das sei minderwertiger Mainstream oder völliger Schwachsinn, Kitsch pur oder Aussagekraft quasi null, wenn der Film hingegen Mathilda nicht gefiel, fand Xaver den Film doch irgendwie besonders und schräg – »der Film hat was!« –, selbst wenn es »nur ein Hollywoodfilm« war. Bis Mathilda das Spielchen durchschaute und bewusst immer zuerst Xaver seine Meinung verkünden ließ.
Wenn sie in den Urlaub fuhren, behauptete Mathilda, die Ernährerin und Schatzmeisterin der kleinen Familie, dass das knappe Budget nur einen Campingurlaub in Italien erlaube und sonst nichts, eine Flugreise samt Hotel wäre einfach nicht erschwinglich, obwohl sie wusste, dass Xaver Campingurlaube hasste. Sie saßen auf ihren Klappstühlen vor dem winzigen Zweimannzelt und aßen die mit dem kleinen Gaskocher selbst gekochten Spaghetti und vertrieben die um die Plastikteller summenden Wespen, Mathilda stöhnte vor angeblicher Wollust, sich uneingeschränkt in der Natur zu befinden, Xaver unterstellte ihr insgeheim, vor lauter Befriedigung, ihn quälen zu können, zu stöhnen. Er wälzte sich im stickigen Zelt hin und her und konnte nicht schlafen, erst gegen zwei Uhr nachts hörten die letzten Campingurlauber zu feiern auf, um fünf Uhr war es wieder hell im Zelt und außerdem kam die Müllabfuhr. Er vermisste Komfort und Intimsphäre, man saß ausgesetzt wie auf einer Bühne auf seinem abgesteckten Fleckchen niedergetrampelter Wiese, jeder konnte beobachten, wenn man mit der Klopapierrolle in der Hand zu den Toiletten eilte, er genierte sich, es war ihm ein Graus. Jedes Jahr nahm er sich wieder vor, im nächsten Sommer den Urlaub überhaupt zu boykottieren, einfach zu Hause zu bleiben, sie könne ja alleine campieren, doch jedes Jahr wieder ließ er sich von Mathildas Begeisterung für das Campen anstecken und sich von ihr überreden.
Und dann passierte eines Tages das Unvermeidliche: Es war im Herbst, Mathilda beabsichtigte, alle Sommerjacken zu waschen und anschließend im Keller zu verräumen, als sie in Xavers Jeansjacke einen Liebesbrief, der mit »Lieber Kuss, Juli« unterschrieben war, fand und las. Mathilda fragte Xaver sofort nach der Verfasserin dieses Briefs: »Kennst du eine Juli?«, was Xaver aber zuerst verneinte. Sie merkte sofort, dass er log, dafür kannte sie seine Mimik einfach viel zu gut, es waren nur winzige, kaum merkliche Regungen in seinem Gesicht, doch sie waren da: der leicht starre Blick und das kurze, verräterische Zucken seines linken Augenlids, das ihn immer verraten hatte, wenn er die Unwahrheit sagte, weil er sie nicht verletzen wollte: »Nein, das stimmt nicht, meine Mutter schätzt dich wirklich,
Weitere Kostenlose Bücher